Justice (German Edition)
Auf dem Weg zu Themba Mbete
»He du! Wohin gehst du, Junge?«
Die Stimme der Frau schallte durch die Nacht. Sie hatte eine warme Stimme, eine gütige Stimme. Sie war tief und voll und bot Milan Geborgenheit an. Schutz sogar. Doch Milan schenkte der Stimme keine Beachtung. Er konnte es sich nicht erlauben. Nicht jetzt. Er hatte keine Zeit. Mit großen Schritten marschierte er den staubigen Bürgersteig entlang.
Nun spürte er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. Er blieb überrascht stehen und drehte sich um. Die Frau mit der dunklen Stimme stand jetzt direkt hinter ihm. Die beiden schauten sich einen Augenblick lang an. Die Frau hatte ein rundes Gesicht, das von tiefen, dunklen Furchen geprägt war. An der Stelle ihrer Schneidezähne klaffte eine Lücke. Ihre großen braunen Augen sahen traurig aus.
»Es ist dunkel«, hauchte sie atemlos und blickte auf das Blut an Milans Hemd. »Du musst nach Hause, mein Junge. Du musst zu deiner Familie.«
Milan senkte den Kopf. Er wäre natürlich lieber zu Hause gewesen. Bei seiner Mutter, in dem großen ummauerten Haus, wo sich wirklich jeder geborgen fühlen konnte. Bei seiner Familie. Allein die Erwähnung dieses Wortes stach Milan ins Herz wie ein Messer. Für Milan gab es kein Zuhause mehr.
Der Junge schüttelte den Kopf. Seine bleiche Haut glänzte in feuchtkaltem Schweiß. Er war deutlich größer als die kleine alte Frau, die vor ihm stand. Sein Körper war drahtig und muskulös, seine Schultern kräftig. Die Frau betrachtete sein hübsches Gesicht mit einem fragenden Blick: die frische, jugendliche Haut, das kantige Kinn, die hohen Wangenknochen, die schmalen Augen. Sein Körper hätte der eines erwachsenen Mannes sein können, doch sein Gesicht war noch so unschuldig.
Milan sah die Frage in ihren Augen. Er sah auch das Blut auf seinem eigenen Hemd. Es klebte an seiner Brust. Doch bevor die Frau ihre Antwort fand, drehte er sich wortlos um und eilte weiter die Straße entlang.
»Sei vorsichtig, mein Junge!«, rief sie ihm besorgt nach, aber die Dunkelheit schien ihre Stimme zu verschlucken. »Du musst auf dich aufpassen. Du musst zusehen, dass du nach Hause kommst!«
Wie besessen lief Milan durch das nächtliche Township. Seine Schritte waren fest und entschlossen. Er war wie ein Jagdhund, der die Witterung seines Opfers aufgenommen hatte. Er atmete schwer, sein Hemd war schweißnass. Er war müde, doch sein ganzer Körper stand unter Strom. Es gab nur ein Ziel: das Haus von Themba Mbete.
Weitere Stimmen riefen Milan empört hinterher. Es waren die Stimmen von Menschen, die noch nie einen weißen Jungen auf diesen Straßen gesehen hatten. Doch ihre Rufe waren alle vergeblich, denn Milan hörte nur eine Stimme. Die in seinem Kopf. Sie sagte: Du musst ihn töten!
»Hau ab, du Bure!«
Auch das Gelächter der Kinder und Jugendlichen ließ ihn kalt. Sie tauchten aus den düsteren Gassen auf und liefen neben ihm her. Sie schubsten ihn, versuchten ihn zum Stolpern zu bringen, spuckten ihm direkt vor die Füße.
Plötzlich blieb einer der Jungen wie angewurzelt stehen. »Ach du Scheiße!«, rief er entsetzt. »Er hat ’ne Waffe!«
Die anderen Kinder machten ebenfalls halt. Auch sie sahen jetzt den Handgriff einer Pistole, der an Milans Rücken aus seiner Hose hervorstand. Milan ignorierte sie weiter und bahnte sich seinen Weg durch das Township, während die Kinder und Jugendlichen dem seltsamen Fremden sprachlos hinterherblickten.
Aber er kam nicht weit.
Ein Mann stolperte aus einer Gasse und blieb wie eine Mauer vor dem Jungen stehen. Ein großer Mann mit rasiertem Schädel, blutunterlaufenen Augen und eingefallenen Wangen. Ein kranker Mann. Ein Junkie. Milan wollte sich an ihm vorbeidrängen, aber sein Gegner streckte seine drahtigen Arme aus und versperrte ihm den Weg.
»Was hast du hier zu suchen, du Penner?«, knurrte der Mann. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute den Fremden aus halb geschlossenen Augen an.
Milan spürte die Pistole an seinem Rücken, eng anliegend zwischen Haut und Hosenbund, nur einen Handgriff entfernt. Er überlegte sie herauszuziehen und seinem Gegner damit Angst einzujagen, aber der Junkie war das Risiko nicht wert. Er konnte kaum aufrecht stehen.
»Hey, du Arschgeige, hörst du mich nicht?«, schnauzte ihn der Fixer wieder an. »Was du hier zu suchen hast, will ich wissen!«
Milan schaute sich um. Eine Menschenmenge hatte sich innerhalb kürzester Zeit um die beiden versammelt. Milan war der einzige Weiße in einem
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