Justice (German Edition)
Meer von schwarzen Gesichtern. Sie starrten ihn neugierig an, aber ihre Blicke ließen ihn kalt. Milan hatte keine Angst. Er machte einen Schritt zur Seite und versuchte noch einmal an dem Junkie vorbeizugehen, doch der Mann packte ihn am Arm und hielt ihn zurück.
»Du bleibst hier.«
Ein zweiter Mann trat aus der Menschenmenge hervor. Er war nicht viel älter als der Junkie, aber die Spuren eines harten Lebens zeichneten sich ebenfalls in seinem Gesicht ab. Allerdings war dieser Mann sauber. Keine Drogen, kein Alkohol.
Er sprach den Fixer auf Xhosa an. Milan verstand nur einzelne Worte, aber genug, um den Sinn zu begreifen. Sie wollten Milan dazu bringen, das Township zu verlassen, bevor etwas passierte.
Der Junkie starrte Milan mit roten Augen an. Er hörte dem Älteren zu und rührte sich nicht von der Stelle. Schließlich nahm der Mann Milan sanft am Arm und zog ihn aus der Menschenmenge.
»Komm mit«, sagte er, und die Schaulustigen machten den Weg für sie frei. »Ich habe ein Auto. Ich fahre dich nach Hause.«
Milan folgte dem Mann wie ein Hund seinem Herrchen. Jetzt, wo die Konfrontation vorbei war, verloren die Menschen ihr Interesse an dem weißen Eindringling. Das Spektakel war zu Ende.
Ohne innezuhalten, reichte der Mann Milan die Hand. »Gib mir deine Waffe«, forderte er mit Nachdruck.
Milan reagierte nicht. Er schaute über die Schulter und sah, wie die Menschenmenge sich auflöste.
»Wir sind gleich da«, betonte der Mann. »Ich will die Waffe haben, bevor du ins Auto steigst. Die Straßen hier gehören den Tsotsis. Denen ist deine Hautfarbe egal, verstehst du? Die töten dich so oder so, wenn du eine Knarre dabeihast.«
Bei jedem Schritt drückte der lange Pistolenlauf gegen Milans Gesäß. Der Mann meinte es gut – das war Milan klar –, aber er hatte keine Ahnung, worum es hier ging. Milan war nicht in Khayelitsha, weil er nirgendwo anders sein konnte. Er war hier, weil er hier sein musste . Er konnte nicht abhauen. Er konnte seine Pistole nicht abgeben. Nicht jetzt. Vielleicht auch später nicht. Milan hatte keine Vorstellung, was danach passieren würde.
Mit Erleichterung nahm der Mann wahr, wie Milan schließlich hinter sich griff und die Pistole aus seiner Hose zog. Doch die Erleichterung wich der puren Angst, als Milan die Waffe hob und fast unhörbar murmelte: »Es tut mir leid.«
Gnadenlos schlug der Siebzehnjährige dem älteren Herrn mit der Waffe ins Gesicht. Der Mann stieß einen ohrenbetäubenden Schrei hervor und sackte in sich zusammen. Ohne einen Moment zu zögern, floh Milan aus dem Licht der Straßenlaterne und suchte Deckung in der dunklen Nebengasse.
»Du Idiot!«, rief ihm der Verletzte hinterher. »Sie werden dich kriegen. Du hast keine Chance!«
Milan lief zielstrebig weiter. Auch vor den Tsotsis hatte er keine Angst. Es war, als wäre er immun. Immun gegen jede Gefahr. Milans Wut und sein Schmerz machten ihn unantastbar.
Bald konnte er sich wieder orientieren. Er war kaum von seinem Weg abgekommen. Das Ziel war nah. Er war schon mehrmals hier gewesen, in dieser Straße. Er erkannte das Gemeindezentrum, das einzig hohe Gebäude in der Gegend. Er schlich hinter das Haus und sprang über den Zaun. Das offene Gelände, das er jetzt betrat, war stockdunkel und menschenleer. Müllberge häuften sich entlang des Zauns. Es stank nach verfaulten Lebensmitteln und Kot. Hier war Milan mit Zeni während der Hochzeit spazieren gegangen. Hinter der Kirche auf der anderen Straßenseite hatten sie sich zum ersten Mal geküsst. Nicht weit entfernt lag Thembas Haus, zum Greifen nah. Themba würde jetzt zu Hause sein. Er musste jetzt zu Hause sein.
Als Milan das Gelände überquerte, raste ein Auto um die Ecke und hielt mit quietschenden Reifen neben der Kirche. Fünf Gestalten stiegen aus. Milan sah die blauen Mützen, die sie alle fünf trugen. Ihr unverwechselbares Erkennungszeichen. Es waren Tsotsis. Die Nachricht über den weißen Jungen mit der Waffe hatte sie also schon erreicht.
Die fünf Gangmitglieder eilten mit festem Schritt über das Gelände auf Milan zu. Zwei von ihnen trugen Baseballschläger, die anderen hielten Messer in den Händen. Die metallischen Klingen glänzten im gelben Licht, das aus den Kirchenfenstern fiel.
Milan schaute sich verzweifelt um. Ein kleiner Zaun umgab den Friedhof auf seiner rechten Seite. Über den Friedhof konnte er die Kirche erreichen, um dann zurück auf die Straße zu kommen, wo Themba Mbete wohnte.
Mit großen Schritten
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