Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
manchmal das Gefühl hatte, er sei noch am Leben, als sei er gar nicht gestorben. Sie spürte seine Nähe auch im Wachen, sie roch sogar den Duft seiner Zigarren. Manchmal kam es ihr so vor, als stünde er neben ihr und verfolge jede ihrer Bewegungen. Sie war ja nur ein Kind und glaubte, dass er sie aus der anderen Welt besuchen kam.
Ihre Mutter Leonóra betrachtete das Ganze im Hinblick auf die reale, greifbare Welt und erklärte ihr, dass die Erscheinungen, die sie sah, die Geräusche, die sie hörte, und der Geruch, den sie verspürte, eine natürliche Reaktion auf den Tod des Vaters seien, etwas, was Teil der Trauerbewältigung sei. Sie hatten ein sehr enges Verhältnis gehabt, und sein Tod war ein derartiger Schock für sie gewesen, dass ihr Unterbewusstsein diese Erscheinungen inszenierte: manchmal sein Bild, manchmal einen mit ihm verbundenen Geruch. Leonóra nannte es das innere Auge, das dem, was in ihrer Seele vorging, Leben zu verleihen vermochte; sie sei nach jenem schweren Schock empfindlich, und ihre Wahrnehmungsfähigkeit sei hypersensibel und fragil, aber das würde sich im Laufe der Zeit wieder geben.
»Was ist, wenn es aber nicht das innere Auge war, wie du immer gesagt hast? Was, wenn das, was ich gesehen habe, als Papa starb, an der Grenze zwischen zwei Welten war? Was ist, wenn er tatsächlich zu mir wollte? Mir etwas mitteilen wollte?« María saß am Bett ihrer Mutter. Seitdem feststand, dass Leonóra ihrem Schicksal nicht entgehen konnte, sprachen sie ganz offen über den Tod.
»Ich habe all diese Bücher über das Licht und den Tunnel gelesen, die du mir gebracht hast«, sagte Leonóra. »Vielleicht ist etwas Wahres an dem, was die Leute sagen. Über den Tunnel zur Ewigkeit. Ewiges Leben. Ich werde es bald herausfinden.«
»Es gibt so viele eindeutige Berichte von Menschen, die starben, aber wieder ins Leben zurückgeholt werden konnten. Über Nahtod-Erfahrungen. Über das Leben nach dem Tod«, sagte María .
»Wir haben so oft darüber geredet …«
»Weshalb sollten sie nicht wahr sein? Zumindest einige von ihnen?«
Leonóra blickte mit halb geschlossenen Augen auf ihre Tochter, die todunglücklich neben ihrem Bett saß. Die Krankheit machte María beinahe mehr zu schaffen als ihr selbst. Der Gedanke an den bevorstehenden Tod der Mutter war unerträglich für María. Wenn Leonóra ging, blieb sie ganz allein zurück.
»Ich glaube nicht an so etwas, weil ich an alles Reale, Greifbare glaube.«
Sie schwiegen lange. María senkte den Kopf, und Leonóra dämmerte vor sich hin. Nach zweijährigem Kampf gegen den Krebs, der jetzt die Oberhand gewonnen hatte, war sie am Ende ihrer Kräfte.
»Ich werde dir ein Zeichen geben«, flüsterte sie und hob die Augenlider ein wenig.
»Ein Zeichen?«
Leonóra lächelte matt durch den Nebel des Morphiums, der ihr Bewusstsein umgab. »Es muss etwas Einfaches sein.«
»Was?«, fragte María.
»Es muss … Es muss etwas Greifbares sein. Es darf kein Traum sein und auch keine unklare Wahrnehmung.«
»Willst du damit sagen, dass du mir ein Zeichen aus dem Jenseits geben willst?«
Leonóra nickte. »Weshalb nicht? Falls denn das sogenannte Leben nach dem Tod etwas anderes ist als nur eine Wunschvorstellung.«
»Und wie stellst du dir das vor?«
Leonóra schien eingeschlummert zu sein.
»Du kennst meinen Lieblingsschriftsteller.«
»Das ist Proust.«
Leonóra fasste nach der Hand ihrer Tochter.
»Proust«, sagte sie erschöpft und schlief endlich ein. Gegen Abend fiel sie ins Koma. Sie starb zwei Tage später, ohne das Bewusstsein zurückerlangt zu haben.
Drei Monate nach Leonóras Beerdigung schreckte María mitten am Vormittag durch irgendetwas auf und ging ins Wohnzimmer. Sie war allein im Haus, denn Baldvin ging immer sehr früh in die Praxis, und sie fühlte sich nach schweren Träumen und durch die lange psychische Belastung müde und matt. Auf dem Weg zur Küche überkam sie plötzlich das Gefühl, sie sei nicht allein im Haus.
Zunächst glaubte sie, dass sich ein Einbrecher Zutritt verschafft hätte, und sie schaute sich ängstlich um. In der Hoffnung, einen etwaigen Einbrecher abzuschrecken, fragte sie laut, ob jemand im Haus wäre. Sie stand wie versteinert da und verspürte plötzlich den schwachen Duft des Parfüms, das ihre Mutter benutzt hatte.
María starrte angestrengt in das dämmrige Wohnzimmer und sah Leonóra bei den Bücherregalen stehen und zu ihr sprechen, aber María konne nicht verstehen, was sie sagte.
Sie
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