Kaeltezone
Hannes das nächste Mal traf, fragte er ihn, weshalb er nicht ins Wohnheim gekommen war, um mit ihnen zu feiern. Er sprach ihn nach einer Seminarsitzung in Baustatik an, an der auch Hannes teilgenommen hatte. Die Sitzung war an dem Tag anders als sonst verlaufen. Zwanzig Minuten nach Beginn der Stunde öffnete sich die Tür, und drei Studenten marschierten herein, die sich als FDJ-Funktionäre ausgaben und ums Wort baten. Bei ihnen war auch ein Student, den er manchmal in der Bibliothek gesehen hatte. Er glaubte, dass er Germanistik studierte. Der Student hielt die Augen gesenkt. Der Anführer sagte, er sei Schriftführer in der FDJ, und er fing an, über Solidarität unter den Studenten zu reden, indem er sich über die vier verschiedenen Aspekte des Studiums ausließ: den Studierenden die marxistische Lehre nahe zu bringen, sie zu verantwortungsbewussten Mitgestaltern der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu erziehen, sie in die sozialistische Gemeinschaftsarbeit zu integrieren, die von jungen Kommunisten organisiert wurde, und eine Schicht von Akademikern heranzuziehen, die später zu bestens ausgebildeten Spezialisten würden.
Danach wandte er sich dem Studenten zu und berichtete, dass dieser gestanden habe, Westsender zu hören. Der Student blickte hoch, trat einen Schritt vor, gestand seine sträfliche Handlungsweise und gelobte, es nie wieder zu tun. Diese Sender seien vom imperialistischen Profitdenken des kapitalistischen Wirtschaftssystems infiltriert. Er forderte alle Seminarteilnehmer dazu auf, in Zukunft nur noch Ostsender zu hören.
Der Schriftführer dankte ihm für seine Worte und bat alle Seminarteilnehmer, sich ihm anzuschließen und zu schwören, dass keiner von ihnen jemals mehr einen westlichen Sender einschalten werde. Die Seminarteilnehmer gelobten das feierlich, anschließend wandte sich der Anführer an den Dozenten und entschuldigte sich für die Störung, und das Trüppchen marschierte wieder aus dem Hörsaal.
Als Hannes, der zwei Reihen vor ihm saß, sich zu ihm umdrehte, standen ihm Erschütterung und Wut ins Gesicht geschrieben.
Nach der Seminarstunde war Hannes vor ihm aus dem Hörsaal gestürmt. Er rannte hinter ihm her, packte ihn am Ärmel und fragte hastig, ob etwas nicht in Ordnung sei.
»In Ordnung?«, wiederholte Hannes. »Fandest du das in Ordnung, was sich da vorhin abgespielt hat? Hast du den armen Kerl gesehen?«
»Da vorhin«, sagte er, »nein, ich … trotzdem, es muss doch irgendwie … wir müssen …«
»Lass mich in Ruhe«, unterbrach Hannes ihn. »Lass mich bloß in Ruhe.«
»Warum bist du nicht zum Weihnachtsessen gekommen? Die anderen glauben, dass du dich für was Besseres hältst.« »Das ist totaler Quatsch«, sagte Hannes und beschleunigte seine Schritte, um ihn loszuwerden.
»Was ist los?«, fragte er. »Warum benimmst du dich so? Was ist passiert? Was haben wir dir getan?«
Hannes blieb stehen.
»Nichts, ihr habt mir nichts getan«, antwortete er. »Ich will bloß in Ruhe gelassen werden. Ich bin im Frühjahr mit dem Studium fertig und basta. Weiter nichts. Dann gehe ich zurück nach Island, dann ist das alles hier vorbei. Dieses ganze Theater. Merkst du denn wirklich nichts? Hast du nicht gesehen, wie sie mit dem armen Jungen umgesprungen sind? Du möchtest womöglich, dass es in Island auch so wird?!«
Damit stiefelte er weiter.
»Tómas«, hörte er jemanden hinter sich rufen. Er drehte sich um und sah, dass Ilona ihm zuwinkte. Er lächelte sie strahlend an. Sie hatten sich nach dem Seminar verabredet. Am Tag nach der isländischen Weihnachtsfeier war sie ins Wohnheim gekommen und hatte nach ihm gefragt. Seitdem trafen sie sich regelmäßig. An diesem Tag machten sie einen langen Spaziergang durch die Altstadt und setzten sich bei der Thomaskirche auf eine Bank. Er erzählte ihr von den beiden isländischen Dichtern, die Freunde gewesen und einmal hier durch die Stadt gegangen waren und genau da gesessen hatten, wo sie jetzt saßen. Der eine war an Tuberkulose gestorben. Der andere war der berühmteste Schriftsteller Islands.
»Du bist immer so traurig, wenn du von deinen Isländern erzählst«, sagte sie lächelnd.
»Es fasziniert mich einfach, dass die beiden durch die gleichen Straßen und Gassen hier in dieser Stadt gegangen sind wie ich. Zwei isländische Dichter.«
Er hatte bei der Kirche bemerkt, dass sie unruhig war und irgendwie auf der Hut zu sein schien. Sie blickte sich ständig suchend um.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«,
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