Kaeltezone
inzwischen ziemlich gut beherrschte. Als ihm klar wurde, dass er sie unentwegt anstarrte, seitdem sie sich neben ihn gesetzt hatte, schlug er rasch die Augen nieder.
»Was sind denn das für Scheußlichkeiten?«, fragte sie und deutete auf einen der Schafsköpfe, von dem noch keiner gekostet hatte.
»Ein Schafskopf, der halbiert und über einem Feuer geflämmt worden ist«, sagte er und sah, dass sie das Gesicht verzog.
»Wer macht denn so was?«, fragte sie.
»Wir Isländer«, entgegnete er. »Das schmeckt wirklich sehr gut«, fügte er nach leichtem Zögern hinzu. »Die Zunge und das Backenfleisch …« Er verstummte, als ihm klar wurde, dass es nicht sehr appetitlich klang.
»Esst ihr etwa auch die Augen und die Lippen?«, fragte sie, ohne ihren Ekel verbergen zu können.
»Die Lippen? Ja, die auch. Und die Augen.«
»Da müsst ihr wohl immer wenig zu essen gehabt haben, wenn ihr euch so etwas zu Gemüte führt.«
»Island war ein sehr armes Land«, sagte er und nickte bestätigend.
»Ich heiße Ilona«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Sie gaben sich die Hand, und er sagte, dass er Tómas heiße.
Einer von den beiden, die mit ihr gekommen waren, rief ihr etwas zu. Vor ihm stand bereits ein Teller voll geräuchertem Lammfleisch und Kartoffeln, vor seinem Freund ebenfalls. Er ermunterte sie, sich auch etwas davon zu nehmen, es sei sehr gut. Sie stand auf, holte sich einen Teller und schnitt eine Scheibe von der Lammkeule ab.
»Wir kriegen hier viel zu wenig Fleisch«, sagte sie.
»Genau«, sagte er, um etwas zu sagen.
»Mmmh, das schmeckt aber lecker«, sagte sie mit vollem Mund.
»Besser als Schafsaugen«, sagte er.
Sie feierten bis in den frühen Morgen. Später kamen noch weitere Studenten hinzu, und das Haus füllte sich. Ein alter Plattenspieler wurde hervorgekramt, und irgendwer legte eine Platte von Frank Sinatra auf. Als die Nacht schon fortgeschritten war, sangen die Vertreter der Nationen abwechselnd patriotische Lieder. Karl und Emíl trugen ein melancholisches Lied von Jónas Hallgrímsson vor, beide standen stark unter dem Einfluss der hochprozentigen Sendung aus Island. Dann machten die Tschechen weiter, die Schweden und schließlich auch die Deutschen und ein Student aus Senegal, der sich nach heißen afrikanischen Nächten sehnte. Hrafnhildur wollte auf einmal wissen, was in jeder dieser Sprachen die schönsten Dichterworte waren, was einige Meinungsverschiedenheiten hervorrief, bis man sich untereinander einigte und ein Vertreter jeder Nation aufstand und das Schönste vortrug, was in seiner Sprache gedichtet worden war. Die Isländer waren sich sofort einig. Hrafnhildur stand auf und trug das Gedicht vor. Das Schönste, was je in isländischer Sprache geschrieben worden war, stammte von Jónas Hallgrímsson.
Den Liebesstern
Unter Lavazinnen
Verhüllen nächtliche Wolken.
Einst lacht’ am Himmel.
Traurig sehnt sich
Ein Jüngling im tiefen Tale.
Sie deklamierte voller Pathos, und obwohl die wenigsten der Zuhörer Isländisch verstanden, verstummten alle für einen Augenblick, bevor der Beifall losbrach und Hrafnhildur sich tief verneigte.
Ilona und er saßen immer noch zusammen am Tisch, und sie schaute ihn fragend an. Er erzählte ihr von dem jungen Mann in dem Gedicht, der an eine lange Reise durch Islands Einöden zurückdenkt, zusammen mit dem Mädchen, das er liebte. Er wusste, dass ihre Liebe nie Erfüllung finden würde, und mit diesen traurigen Gedanken kehrte er tief betrübt zurück in sein Tal. Hoch über ihm glänzte der Stern der Liebe, der ihm zuvor den Weg gewiesen hatte, aber jetzt hinter einer Wolke verschwunden war, und er dachte daran, dass ihre Liebe ewig währen würde, auch wenn sie keine Erfüllung fand.
Sie schaute ihn an, während er sprach, und ob es nun wegen dieser Geschichte von dem traurigen Jüngling war oder wegen des isländischen Brennivíns, sie küsste ihn jedenfalls plötzlich direkt und so weich auf den Mund, dass er sich wie ein kleiner Junge fühlte.
Rut kehrte nach den Weihnachtsferien nicht wieder nach Leipzig zurück. Sie schrieb Briefe an alle ihre Freunde, und in ihrem Brief an ihn schrieb sie von den schlechten Zuständen und ein paar anderen Dingen, und er begriff, dass sie genug gehabt hatte. Oder vielleicht war ihr Heimweh so stark gewesen. Sie sprachen in der Küche des Wohnheims darüber. Karl sagte, sie würde ihm fehlen, und Emíl nickte zustimmend. Hrafnhildur hingegen erklärte, Rut sei verweichlicht.
Als er
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