Todesmarsch
Der alte, blaue Ford, der am frühen Morgen auf den bewachten Parkplatz fuhr, wirkte wie ein kleiner, erschöpfter Hund nach einer schweren Hetzjagd. Einer der Wächter, ein junger, ausdrucksloser Mann in einer Khakiuniform mit einem Sam-Browne-Gürtel, verlangte nach dem blauen Plastikausweis. Der Junge auf dem Rücksitz reichte ihn seiner Mutter. Seine Mutter gab ihn dem Wächter. Der Wächter nahm die Plastikkarte entgegen und steckte sie in einen Computer, der in dieser ländlichen Abgeschiedenheit fremdartig und fehl am Platz wirkte. Der Computer verschluckte die Karte, und auf dem Bildschirm erschien folgende Information: GARRATY RAYMOND DAVIS
Der Wächter drückte auf einen Knopf, und die Schrift verschwand. Der leere Bildschirm glänzte wieder glatt und grün. Der Wächter winkte sie durch.
»Bekommst du den Ausweis nicht zurück?« fragte Mrs. Garraty.
»Nein, Mam«, antwortete Garraty nachsichtig. »Also, mir gefällt das nicht«, seufzte sie und fuhr in eine leere Parklücke. Seit sie um zwei Uhr morgens in der Dunkelheit aufgebrochen waren, seufzte sie. Manchmal hatte sie sogar gestöhnt.
»Mach dir keine Sorgen«, beschwichtigte er sie, ohne selbst auf seine Worte zu achten. Er war zu sehr mit seinen eigenen Gefühlen, mit seiner Angst und seiner Erwartung beschäftigt. Aufmerksam sah er sich um. Noch bevor der Motor mit einem asthmatischen Keuchen verstummte, stand er schon draußen - ein großer, kräftiger Junge, der zum Schutz gegen die morgendliche Kühle des Frühlingstages eine verblichene Armeejacke trug.
Seine Mutter war ebenfalls groß und viel zu dünn. Ihre Brüste waren kaum vorhanden: angedeutete Hügel. Ihre Augen schweiften unsicher umher und wirkten irgendwie erschrocken. Ihr Gesicht sah krank aus. Trotz einer komplizierten Anordnung von Spangen hatte ihr eisengraues Haar sich gelöst und stand wirr um ihren Kopf herum. Das Kleid schlotterte ihr lose am Körper, so, als hätte sie vor kurzem eine Menge Gewicht verloren.
»Ray«, sagte sie in einem flüsternden Verschwörerton, den er inzwischen fürchtete. »Ray, hör mir zu.«
Er senkte den Kopf und tat so, als stopfe er sein Hemd in der Hose fest. Einer der Wächter aß sein Frühstück aus einer Armeevorratsdose und las in einem Comic-Heft. Garraty beobachtete ihn beim Essen und Lesen und dachte wohl schon zum tausendsten Mal: Es ist alles Wirklichkeit. Und jetzt bekam der Gedanke endlich etwas Gewicht.
»Du hast immer noch Zeit, deine Meinung zu ändern.«
»Nein, dazu ist es jetzt zu spät«, erwiderte er. »Der letzte Absagetermin war gestern.«
In dem leisen Verschwörerton, den er haßte, fuhr sie fort: »Sie werden das verstehen, das weiß ich. Der Major würde -« »Der Major würde -«, begann Garraty heftig und sah, wie seine Mutter zusammenzuckte. »Du weißt doch, was der Major tun würde, Mam.«
Ein weiterer Wagen hatte das kleine Ritual am Eingangstor hinter sich und fuhr auf den Parkplatz. Ein Junge mit einem dunklen Haarschopf stieg aus. Seine Eltern folgten ihm, und die drei berieten sich einen Augenblick wie eine Gruppe besorgter Baseballspieler. Wie andere der Jungen hatte auch dieser einen leichten Rucksack bei sich. Garraty fragte sich.
ob es nicht ungeschickt von ihm gewesen sei, nicht selbst einen mitzubringen.
»Du wirst deine Meinung also nicht ändern?«
Angst und Erregung stiegen.
Es waren ihre Schuldgefühle, die sich als Besorgnis zeigten. Obwohl er erst sechzehn Jahre alt war, hatte Ray Gar-raty durchaus eine Ahnung von Schuldgefühlen. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie zu müde, zu unaufmerksam und vielleicht auch zu sehr mit ihrem eigenen Kummer beschäftigt gewesen war, um den Wahnsinn ihres Sohnes im Keim zu ersticken - um ihn aufzuhalten, bevor die schwerfällige Staatsmaschinerie mit ihren Wächtern in den Khakiuniformen und ihren Computern ihn übernahm und ihn mit jedem vergehenden Tag mehr an ihre gefühllosen Machenschaften band; gestern nun endgültig war der Deckel zugeklappt.
Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es war meine Idee, Mam. Ich weiß, daß du nichts damit zu tun hast. Ich-« Er blickte sich kurz um. Niemand schenkte ihnen auch nur die geringste Aufmerksamkeit. »Ich hab' dich lieb, aber so ist es am besten. Egal, wie es ausgeht.«
»Nein, das ist es nicht«, widersprach sie und kämpfte jetzt mit den Tränen. »Ray, wenn nur dein Vater hier wäre, er würde das Ganze sofort aufhalten.«
»Er ist aber nicht hier.« Er wollte brutal sein, weil er so hoffte,
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