Kaeltezone
Ilona?«
»Überhaupt nicht«, sagte Emíl.
»Du bist doch selber hinter den Mädchen her. Hrafnhildur hat mir von einer aus dem ›Roten Kloster‹ erzählt.«
»Zwischen uns ist gar nichts«, sagte Emíl.
»Ach nee!«
»Vielleicht erzählst du mir ja irgendwann mal mehr über diese Ilona«, sagte Emíl.
»Sie ist nicht so überzeugt wie wir. Sie findet Verschiedenes an diesem System verkehrt und will das ändern. Es ist hier genau dasselbe wie in Ungarn, mit dem einen Unterschied, dass die jungen Leute dort etwas unternehmen wollen. Gegen diesen Krampf angehen wollen.«
»Was soll das denn mit diesem ›Krampf‹?«, stieß Emíl hervor. »So ein verdammter Quatsch! Guck dir doch die Situation in Island an. Die Leute hausen frierend in den amerikanischen Militärbaracken, die Kinder hungern, und die Eltern haben kaum das Geld, um ihnen was Anständiges zum Anziehen zu kaufen. Unterdessen wird die speckfette Elite immer reicher und dicker. Ist das vielleicht nicht genauso gut ein ›Krampf‹? Was wäre dabei, wenn man zeitweilig die Leute überwachen und die Meinungsfreiheit einschränken müsste? Es geht darum, die Ungerechtigkeit abzuschaffen. Das kann Opfer fordern. Was ist schon dabei?«
Sie verstummten. Stille hatte sich über das Zeltlager gesenkt, und draußen war es stockfinster.
»Ich wäre zu allem bereit für eine isländische Revolution«, sagte Emíl. »Zu allem, um die Ungerechtigkeit aus der Welt zu räumen.«
Er stand am Fenster und blickte auf die Sonnenstrahlen, die durch die Wolken brachen, und einen fernen Regenbogen. Beim Gedanken an den Sportverband musste er innerlich lächeln. Das Bild von Ilona erschien vor seinem inneren Auge, wie sie bei der Weihnachtsfeier in schallendes Gelächter ausbrach, und er dachte an den weichen Kuss, den er immer noch auf seinen Lippen spürte, an den Stern der Liebe und den traurigen Jüngling im Tale.
Vierzehn
Die Mitarbeiter des Außenministeriums waren sehr entgegenkommend und gern bereit, der Kriminalpolizei behilflich zu sein. Elínborg und Sigurður Óli hatten einen Termin bei einem Abteilungsleiter bekommen, einem überaus beflissenen Mann in Sigurður Ólis Alter. Die beiden kannten sich auch aus ihrer Studienzeit in Amerika und tauschten als Erstes ein paar gemeinsame Erinnerungen aus. Der Abteilungsleiter erklärte, dass die Anfrage der Kriminalpolizei einiges Erstaunen im Außenministerium hervorgerufen hatte, und wollte in Erfahrung bringen, wofür sie Informationen über frühere Angehörige der ausländischen Botschaften in Reykjavík brauchten. Sie schwiegen sich aus. »Eine reine Routineuntersuchung«, erklärte Elínborg lächelnd.
»Und es geht nicht um alle ausländischen Botschaften«, sagte Sigurður Óli und lächelte ebenfalls. »Nur um die Vertretungen der ehemaligen Ostblockländer.«
Die Blicke des Abteilungsleiters wanderten von Elínborg zu Sigurður Óli.
»Ihr sprecht also von den früheren kommunistischen Staaten?«, fragte er, und es war ganz offensichtlich, dass seine Neugier keineswegs geringer geworden war. »Warum bloß die? Was ist mit denen?«
»Eine reine Routineuntersuchung«, wiederholte Elínborg. Sie war guter Dinge. Die Party zum Erscheinen des Buchs war perfekt gelungen, und sie schwebte immer noch auf Wolken, nachdem in der größten Tageszeitung eine Rezension erschienen war, in der das Buch sehr gelobt wurde, die Rezepte, die Illustrationen und alles. Und zum Schluss wurde sogar der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass man sich mehr von Elínborg erwartete, der Kriminalpolizistin mit dem exquisiten Gaumen.
»Die kommunistischen Staaten«, wiederholte der Abteilungsleiter nachdenklich. »Was habt ihr da eigentlich im See gefunden?«
»Wir wissen nicht, ob das mit den Botschaften in Verbindung steht«, sagte Sigurður Óli.
»Kommt mit«, sagte der Abteilungsleiter und erhob sich. »Am besten sprechen wir mit dem Staatssekretär, falls er in seinem Büro ist.«
Der Staatssekretär nahm sie in seinem Büro in Empfang und hörte ihnen zu, als sie ihr Anliegen vortrugen. Er versuchte ebenfalls, den Grund für diese ungewöhnliche Anfrage von ihnen zu erfahren, aber auch er brachte nichts aus ihnen heraus.
»Gibt es Akten über diese Botschaftsangehörigen?«, fragte der Staatssekretär, ein außergewöhnlich großer, schlanker Mann mit dunklen Ringen unter müden Augen und zerfurchtem Gesichtsausdruck.
»Ja, die gibt es«, sagte der Abteilungsleiter. »Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, diese
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