Kaeltezone
einer Frau, die früher einmal in einem Milchgeschäft gearbeitet hat. Wegen einer Radkappe, die an dem Auto fehlte. Wegen eines ziemlich neuen Autos, das beim Busbahnhof abgestellt wurde. Da ist irgendetwas, das meiner Meinung nach nicht zusammenpasst.«
Marian schloss die Augen und sank tiefer in den Sessel.
»Wir haben fast denselben Namen«, sagte Marian so leise, dass Erlendur es kaum verstehen konnte.
»Was?«, fragte er und beugte sich vor. »Was sagst du da?« »John Wayne und ich«, erklärte Marian. »Wir haben fast denselben Namen.«
»Was redest du denn da für einen Quatsch?«
»Kein Quatsch. Findest du das nicht komisch? John Wayne.« Erlendur wollte gerade antworten, als er sah, dass Marian einzuschlafen schien. Er nahm die Kassettenhülle zur Hand und betrachtete den Titel The Searchers . Ein Film über Starrsinn, dachte er.
Seine Blicke glitten von der Kassettenhülle zu Marian und dann wieder zu John Wayne, der hoch zu Ross und mit geschultertem Gewehr abgebildet war. Er sah auf den Fernseher in der Ecke des Zimmers, legte die Kassette ein, setzte sich wieder auf das Sofa und schaute sich The Searchers an, während Marian sanft schlummerte.
Sechzehn
Sigurður Óli war gerade im Begriff, sein Büro zu verlassen, als das Telefon klingelte. Er zögerte. Am liebsten hätte er die Tür hinter sich zugeknallt, aber er ging seufzend zurück und nahm den Hörer ab.
»Störe ich dich?«, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung.
»Kann man so sagen«, erwiderte Sigurður Óli. »Ich bin auf dem Weg nach Hause. Außerdem …«
»Entschuldige«, sagte der Mann.
»Hör auf, dich dauernd für alles Mögliche zu entschuldigen, und hör auf, dauernd bei mir anzurufen. Ich kann nichts für dich tun.«
»Ich habe nicht viele, mit denen ich reden kann«, sagte der Mann.
»Ich bin aber keiner von denen. Ich bin bloß zufälligerweise am Unfallort gewesen, weiter nichts. Ich bin kein Seelsorger. Sprich doch mit deinem Pastor.«
»Findest du, dass ich die Schuld daran habe?«, fragte der Mann. »Wenn ich sie nicht angerufen hätte …«
Das hatten sie alles schon wer weiß wie oft durchgesprochen. Sie glaubten beide nicht an einen Gott, der hinter irgendeinem unbegreiflichen Gesamtkonzept steckte und Opfer forderte wie die Ehefrau und die Tochter des Mannes. Keiner von beiden glaubte an Vorsehung. Beide glaubten nicht, dass alles vorherbestimmt war und dass man keinen Einfluss darauf nehmen konnte. Beide glaubten an simple Zufälle. Beide waren aber realistisch und mussten die Tatsache akzeptieren, dass die Ehefrau nicht in dem Augenblick an dieser Kreuzung gewesen wäre, als der Betrunkene im Jeep bei Rot durchfuhr, wenn der Ehemann sie nicht angerufen hätte. Allerdings gab Sigurður Óli nicht dem Ehemann die Schuld daran, was geschehen war, und seine Argumente fand er völlig abwegig.
»Du trägst keine Schuld an diesem Unfall«, sagte Sigurður Óli. »Das weißt du selber auch, und hör auf, dich damit zu quälen. Nicht du bist auf dem Weg ins Gefängnis wegen fahrlässiger Tötung, sondern der Vollidiot in dem Jeep.«
»Das spielt keine Rolle«, stöhnte der Mann.
»Was sagt der Psychiater?«
»Der redet bloß von irgendwelchen Pillen und Nebenwirkungen. Wenn ich die eine Sorte einnehme, nehme ich zu, und wenn ich die andere nehme, habe ich keinen Appetit mehr. Und dann ist da noch eine Sorte, von der ich dauernd kotzen muss.«
»Darf ich dir ein anderes Beispiel nennen?«, sagte Sigurður Óli. »Eine Gruppe Leute fährt seit fünfundzwanzig Jahren einmal im Jahr in die Þórsmörk. Einer aus der Gruppe hatte seinerzeit die Idee gehabt. In einem Jahr passiert dann ein tödlicher Unfall, und einer der Teilnehmer am jährlichen Ausflug kommt ums Leben. Und ist das jetzt die Schuld dessen, der die Idee hatte? Das ist doch absurd! Wo soll das mit deinen Grübeleien enden? Zufall ist Zufall. Niemand hat Einfluss darauf.«
Der Mann antwortete ihm nicht.
»Verstehst du, was ich meine?«, fragte Sigurður Óli.
»Ich weiß, was du meinst, aber es hilft mir nicht.«
»Tja, also dann, ich muss jetzt los«, sagte Sigurður Óli.
»Vielen Dank«, sagte der Mann und legte auf.
Erlendur saß zu Hause in seinem Sessel und las. Er versetzte sich in die Situation einer Gruppe von Menschen hinein, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Weg von Ísafjörður nach Bolungarvík waren, und er stand zusammen mit ihnen im Schein einer kleinen Laterne unter der berüchtigten Steilwand von Óshlíð.
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