Kaeltezone
er sich dann in Norwegen, in der DDR und einen Winter lang in Moskau aufgehalten. Danach tauchte er in der DDR-Botschaft in Argentinien auf und titulierte sich als Wirtschaftsreferent, so wie die meisten von ihnen«, sagte Quinn und lächelte wieder. »Bei uns war es genauso. 1967 war er wieder für einige Zeit an der hiesigen DDR-Vertretung tätig, fuhr von hier aus nach Deutschland zurück und anschließend nach Moskau. Im Frühjahr 1968 kam er wieder nach Island, und im Herbst 1968 verschwand er von der Bildfläche.«
»Im Herbst 1968?«, wiederholte Elínborg.
»Da haben wir festgestellt, dass er nicht mehr an der Botschaft tätig war. Wir haben die Sache über bestimmte Kanäle unter die Lupe genommen, und es stellte sich heraus, dass er nirgends aufzufinden war. Die DDR hatte zwar in Reykjavík keine Botschaft im eigentlichen Sinne, sondern nur eine so genannte Handelsvertretung, aber das ist wohl nebensächlich.«
»Was wissen Sie über diesen Mann?«, hakte Sigurður Óli nach. »Besaß er Freunde hierzulande? Oder Feinde in seinem Heimatland? Wissen Sie, ob irgendein Fehlverhalten seinerseits bekannt geworden ist?«
»Nein, wie gesagt, derartige Informationen haben wir nicht. Aber wir wissen natürlich nicht alles. Wir haben den Verdacht, dass im Herbst 1968 etwas vorgefallen sein muss, aber wir wissen nicht, was. Er kann ebenso gut den Staatsdienst quittiert und sich abgesetzt haben. Er wusste genau, wie man es anstellt, wenn man untertauchen will. Sie können diese Informationen deuten, wie es Ihnen beliebt. Das ist alles, was wir wissen.«
Er zögerte einen Moment. »Vielleicht ist er uns entwischt«, sagte er dann. »Vielleicht gibt es für all das eine ganz einfache Erklärung. Aber das ist jedenfalls das, was uns vorliegt. Doch jetzt müssen Sie mir noch eins sagen, Bob fragte danach. Wie wurde er getötet, der Mann im See?«
Elínborg und Sigurður Óli blickten sich kurz an.
»Er bekam einen Hieb auf den Kopf. Dicht bei der Schläfe war ein Loch im Schädel.«
»Einen Hieb auf den Kopf?«, wiederholte Quinn.
»Es könnte auch durch einen Sturz verursacht worden sein, aber das wäre dann ein ziemlich tiefer Sturz gewesen«, sagte Elínborg.
»Es war also kein klarer Fall von Hinrichtung? Kein Schuss in den Nacken?«
»Hinrichtung?«, sagte Elínborg. »Wir sind hier in Island. Die letzte Hinrichtung hierzulande wurde mit dem Beil ausgeführt.«
»Ja, natürlich«, sagte Quinn. »Ich sage ja auch nicht, dass ein Isländer ihn umgebracht hat.«
»Können Sie etwas damit anfangen, dass er auf diese Weise ums Leben kam?«, fragte Sigurður Óli. »Falls es denn dieser Spion gewesen ist, der im Kleifarvatn lag.«
»Nein, gar nichts«, erwiderte Quinn. »Der Mann war ein Spion, und mit diesem Job ist ein gewisses Risiko verbunden.«
Er erhob sich. Elínborg und Sigurður Óli begriffen, dass das Gespräch aus seiner Sicht beendet war. Quinn legte die Mappe auf den Schreibtisch und schwieg. Sigurður Óli schaute Elínborg an.
»Wir bedanken uns«, sagte er, »und hoffen, dass Sie sich unseretwegen nicht allzu große Umstände machen mussten.« Er versuchte, sich an weitere Höflichkeitsfloskeln zu erinnern, aber ihm fiel nichts ein.
»Über mich gibt es hier keine Akte?«, fragte Elínborg munter, als sie aufstand.
»Bedaure, genauso wenig wie über ihn«, sagte Quinn, warf Sigurður Óli einen Seitenblick zu und lächelte.
Sie bedankten sich und traten auf den Flur hinaus. Im gleichen Augenblick kam Christopher Melville die Treppe hoch und ging ihnen entgegen, um sie hinauszubegleiten.
»Nur eins noch«, sagte Quinn.
»Was?«, fragte Sigurður Óli.
»Solche Kleinigkeiten vergisst man nur allzu leicht«, sagte Quinn.
»Kleinigkeiten sind meist von enormer Bedeutung«, erklärte Sigurður Óli mit dem amerikanischen Diplom wichtigtuerisch.
»Ja, ich dachte, Sie würden vielleicht wissen wollen, wie er hieß«, sagte Quinn gelassen. »Der Spion, der spurlos verschwand.«
»Wie er hieß?«, sagte Sigurður Óli. »Haben Sie uns das nicht gesagt?«
»Nein, ich glaube, das habe ich noch nicht getan.« Ein knappes Lächeln flog über Quinns Gesicht.
»Und wie hieß er?»
»Er hieß Weiser«, sagte Quinn.
»Weiser«, wiederholte Elínborg.
»Ja«, sagte Quinn und warf einen Blick auf die Papiere, die er in der Hand hielt. »Sein Name war Lothar Weiser, und er wurde in Bonn geboren. Und interessanterweise sprach er Isländisch wie ein Einheimischer.«
Zwanzig
Noch am gleichen Tag
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