Kaeltezone
Óli hatte Bergþóra einen Ausflug nach Þingvellir versprochen. Sie wollten den Sommerabend dort genießen und im Hotel übernachten. Das Wetter war so schön, wie es im Juni nur sein konnte. Es war warm, die Sonne schien, und die ganze Natur duftete.
»Und was machst du heute Abend?«, fragte er Erlendur. »Nichts«, entgegnete Erlendur.
»Möchtest du vielleicht mit uns nach Þingvellir fahren?«, fragte er, konnte aber kaum verhehlen, welche Antwort er erhoffte. Erlendur musste lächeln. Ihre Fürsorglichkeit ihm gegenüber konnte einem auf die Nerven gehen. Manchmal, so wie jetzt, waren es nur höfliche Floskeln.
»Ich erwarte Besuch«, sagte er.
»Wie geht es Eva Lind?«, fragte Sigurður Óli und massierte sich die Schulter.
»Ich habe so gut wie nichts von ihr gehört«, sagte Erlendur. »Ich weiß bloß, dass sie die Therapie durchgehalten hat, aber mehr auch nicht.«
»Was hast du da eben über diesen Leopold gesagt?«, warf Elínborg ein. »Hast du gesagt, dass er mit Akzent gesprochen hat?«
»Ja«, sagte Erlendur, »die Frau hat mir gesagt, dass er einen leichten ausländischen Akzent hatte. Wieso fragst du?«
»Dieser Lothar muss doch bestimmt auch einen Akzent gehabt haben«, sagte Sigurður Óli.
»Was meinst du damit?«, fragte Erlendur.
»Nur dass dieser Typ in der amerikanischen Botschaft gesagt hat, dass dieser Lothar Weiser fließend Isländisch gesprochen hat. Er hat doch bestimmt auch einen Akzent gehabt.«
»Das ist allerdings ein Punkt, den man ins Auge fassen muss«, sagte Erlendur.
»Dass es sich bei Leopold und Lothar womöglich um ein und dieselbe Person handelt?«, fragte Elínborg.
»Ja«, sagte Erlendur, »es ist meines Erachtens durchaus nicht abwegig, das in Betracht zu ziehen. Außerdem verschwinden beide im gleichen Jahr, 1968.«
»Dieser Lothar hätte sich also Leopold genannt?«, überlegte Sigurður Óli. »Und weshalb?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur. »Ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, was dahinter steckt.«
Sie schwiegen.
»Aber dann ist da noch das russische Gerät«, begann Erlendur wieder.
»Ja?«, sagte Elínborg.
»Leopold war auf dem Weg zum Hof von Haraldur. Wo sollte Haraldur ein russisches Abhörgerät herhaben, um ihn im Kleifarvatn zu versenken? Diesen Apparat kann man allerdings durchaus mit Lothar in Zusammenhang bringen, der ein Spion war. Da ist dann etwas passiert, was dazu geführt hat, dass er im See versenkt wurde. Aber Haraldur und Leopold, die passen nicht ins Bild.«
»Haraldur behauptet steif und fest, dass der Vertreter nie auf seinen Hof gekommen ist«, sagte Sigurður Óli. »Ob er nun Leopold oder Lothar geheißen hat.«
»Das ist es nämlich«, sagte Erlendur.
»Was?«, fragte Elínborg.
»Ich glaube, er lügt.«
Erlendur musste drei Videotheken abklappern, bis er den Western fand, den er Marian Briem mitbringen wollte. Marian hatte irgendwann einmal erwähnt, dass es ein hervorragender Film war, der von einem Mann handelte, der ganz allein und auf sich gestellt einer drohenden Gefahr entgegensah, denn seine Mitmenschen und nicht zuletzt seine Freunde hatten ihm den Rücken gekehrt.
Niemand antwortete, als er anklopfte. Marian Briem erwartete ihn, da Erlendur sich telefonisch angemeldet hatte. Als er die Türklinke hinunterdrückte, war die Tür nicht abgeschlossen, und er betrat den Raum. Er hatte nicht vor, lange zu bleiben, sondern wollte nur das Video abliefern. Abends erwartete er Valgerðurs Besuch. Sie war zu ihrer Schwester gezogen.
»Bist du schon da?«, fragte Marian schläfrig. »Ich hab gehört, wie du geklopft hast. Ich bin bloß so unendlich müde. Ich habe fast den ganzen Tag geschlafen. Bist du so nett und schiebst mir das Sauerstoffgerät rüber?«
Erlendur schob das Gestell zum Sessel hin, und als er sah, wie Marian die Hand nach der Maske ausstreckte, schoss ihm urplötzlich die Erinnerung an einen einsamen und bizarren Tod in den Sinn. Die Polizei war zu einem Haus im Þingholt-Viertel gerufen worden. Marian Briem und er gingen zusammen hin. Er war damals erst ein paar Monate bei der Kriminalpolizei gewesen. Ein Todesfall in einem Privathaus, der als Unfall klassifiziert wurde. Eine sehr korpulente ältere Frau saß im Ohrensessel vor dem Fernseher. Sie war schon zwei Wochen tot. Der Gestank in der Wohnung war kaum zu ertragen. Der Nachbar hatte deswegen die Polizei verständigt. Er hatte die Frau seit längerem nicht gesehen, und nach einiger Zeit fiel ihm auf, dass der Fernseher,
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