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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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eine derartige Wendung verfallen? Es ist das erste und einzige Mal, dass Kafka die Hoffnungen seines Helden nicht aufreibt, sondern verwirklicht. [238]   Warum also muss er ihn im Tagebuch betrauern, lange nachdem er jenes Kapitel schon vollendet hat? Schließlich ist doch undenkbar, dass in einer Welt, in der alle Wünsche in Erfüllung gehen, ein Heranwachsender »strafweise umgebracht« wird, auch wenn, entgegen Brods Aussage, das Oklahoma-Kapitel noch keinesfalls das letzte des VERSCHOLLENEN ist. [239]   Falls Kafka nicht noch eine dritte Version seines Romans vor Augen hatte – wofür nicht das Geringste spricht –, so zwingt uns sein Bekenntnis zu einem Salto ins Jenseits: Entweder ist das Theater von {281} Oklahoma ein Traum, vielleicht der Traum eines Sterbenden, oder es ist das Paradies , in dem der Schuldlose ganz selbstverständlich seinen Platz findet … nach seinem Untergang. Kafka hat diese transzendente Natur seiner Gegenwelt mit derart auffälligen, sogar christlich-eschatologischen Merkzeichen versehen, dass uns kaum eine Wahl bleibt: Da ertönen apokalyptische Drohungen (»Verflucht sei wer uns nicht glaubt.«); es gibt Engel und Teufel; die ›Auferstehung‹ wird von Trompetenschall begleitet; der Erste , der sich bewirbt (Karl), ist der Letzte , der aufgenommen wird; die neu Eingetretenen, die kein einziges Gepäckstück bei sich haben, versammeln sich zu einer großen Speisung; und die »Führer« (von Kafka abgeändert aus »Direktor«) sind von überirdischer Milde.
    Kein Wunder, dass Kafka lächelte, als er vom »paradiesischen Zauber« sprach, in dem sein Roman enden werde. Es war nicht die ganze Wahrheit, und wahrscheinlich wäre Brod enttäuscht gewesen, hätte er sie erfahren. Doch Kafka hielt, was er versprochen hatte. Wenn »Heimat«, nach einem Satz aus der DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG, dasselbe ist wie »Entronnensein« [240]   , dann hatte tatsächlich Karl seine Heimat wiedererlangt. Er war entronnen: dem Fluch der Eltern, dem gnadenlosen Vormund, den sadistischen Vorgesetzten, den Quälereien zudringlicher Weggefährten, den fordernden Frauen, dem Schmutz, dem Geld, dem Kampf, entronnen einer kalten Wolfsgesellschaft, die keinen Augenblick der Entspannung duldet und in der auf Dauer nichts zu erreichen ist, es sei denn auf Kosten anderer.
    Kafka hat für dieses, sein Paradies ein Bild gefunden, das auf Anhieb, ja förmlich wie ein Hieb ins Bewusstsein dringt, ein Bild, das in seiner ironischen Überblendung von Technik, Utopie und Erlösung kaum seinesgleichen hat in der deutschsprachigen Literatur. Es ist das Bild der Anzeigetafel auf der Pferderennbahn von Clayton. Eine Tafel, auf der gewöhnlich die Namen der Sieger erscheinen. Jetzt dient sie dazu, die Namen derer bekannt zu geben, die vom Theater von Oklahoma, dem größten Theater der Welt, in Gnaden aufgenommen wurden. Jeder ein Sieger.

{298} Sexualangst und Hingabe
Tinte ist bitter, Leben ist süß.
Albert Ehrenstein
    ›Biographie‹ ist ein Fremdwort; ›Lebensbeschreibung‹ lautet die wörtliche Übertragung. Doch fast stets verstummt die Biographie, wo das Geschriebene endet und das Leben beginnt. Der Biograph war nicht dabei. Sein Geschäft ist die Rekonstruktion, und sein Material sind nicht etwa Fakten, wie der Leser gern glauben möchte, sondern deren Spur in der Sprache, in Aufgezeichnetem, Gedrucktem, Überliefertem. Selten ist daher der Voyeur ein guter Biograph, zahllos hingegen die Lebensbeschreibungen, die nichts anderes tun als Geschriebenes in Geschriebenes zu verwandeln. Das kann in einer mehr oder minder intelligenten Weise geschehen, und häufig ist dies auch die einzige Wahl, die dem Biographen verbleibt. Er macht die Erfahrung – und es ist eine Erfahrung, auch wenn er es längst hätte wissen können –, dass die spontane, körperliche, organische Seite des Lebens, also das, was man einmal in so emphatischer Weise als das Leben schlechthin zu ergreifen suchte, die Tendenz hat, die Schrift zu verdrängen. Es ist dies ein Paradox, das der Biograph, will er nicht zum Drehbuchschreiber werden, gleichsam unaufgeschnürt an seinen Leser weiterreichen muss.
    Freunde, die in derselben Stadt leben, werden sich häufig sprechen, aber selten schreiben; durchaus denkbar, dass ihre Freundschaft weniger konservierbare Spuren hinterlässt als eine belanglose Bekanntschaft, die sich auf den Austausch von Neujahrs- und Geburtstagsgrüßen beschränkt. Korrespondenzen zwischen Liebenden, die aus dem 18. und

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