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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Sonntag war die Hin- und Rückfahrt nicht zu bewältigen, und bis Pfingsten waren noch sieben Wochen. Ein schrecklicher Gedanke.
    Felice scheint ihn daran erinnert zu haben, dass man noch viel länger, dass man selbst sieben Monate ausharren konnte, wenn man dem anderen nur vertraute. Gab es nicht wahre Zaubermittel, die jede Entfernung überwanden? Bilder vor allem? Doch beinahe schroff wies Kafka die angebotene Nahrung zurück.
»Ich habe Dich zu lange in Wirklichkeit gesehn, (dafür wenigstens habe ich die Zeit gut ausgenützt), als dass mir Deine Photographien jetzt etwas nützen könnten. Ich will sie nicht ansehn. Auf den Photographien bist Du glatt und ins Allgemeine gerückt, ich aber habe Dir in das wirkliche, menschliche, notwendig fehlerhafte Gesicht gesehn und mich darin verloren. Wie könnte ich wieder herauskommen und mich in blossen Photographien zurechtfinden!« [264]  
    Stattdessen fand Kafka jetzt Spuren Felices in den Gesichtern und Gesten fremder Menschen, ein unendlich feines Netz von Ähnlichkeiten, Gegensätzen und Anspielungen. Der Beziehungswahn des Verliebten hatte ihn ergriffen mit erneuter Heftigkeit; damit freilich {303} auch das Bewusstsein des Ausgeliefertseins, der nahen Gefahr der Auflösung.
    Es war dies die Kehrseite einer Bereitschaft zur Hingabe, mit der Kafka sich in den denkbar tiefsten Widerspruch zu den maskulinen Potenzphantasien seiner Zeit setzte. Hingabe, die Fähigkeit, den anderen in sich aufzunehmen und zugleich sich ganz in seine Hand zu begeben, gehörte noch völlig in den assoziativen Horizont des Weiblichen. Gerade die Doppeldeutigkeit des Begriffs – der sexuelles ›Gewährenlassen‹ ebenso bezeichnete wie ein ganz der Sorge und dem Mitleiden gewidmetes Leben – machte ihn geeignet als umfassende Leitidee, ja geradezu als Substrat von Weiblichkeit. Denn Mutterschaft und Promiskuität, Tag- und Nachtseite des ›anderen Geschlechts‹, konnten damit zurückgeführt werden auf ein und dasselbe Prinzip: die stete weibliche Neigung zur Selbstpreisgabe, engelsgleich oder hurenhaft, je nachdem.
    Wie borniert und emotional beschränkt dieses Modell war, hatte bereits einige Jahre zuvor ein Kunstwerk auf schockierende Weise illustriert: die Skulptur Sakuntala (Die Hingabe) der französischen Bildhauerin Camille Claudel. Sie zeigt ein Paar, dessen körperlicher Ausdruck so vollkommen ausbalanciert ist, dass unentscheidbar bleibt, wer sich hier wem hingibt. Keine der beiden Marmorfiguren lässt etwas mit sich geschehen, keine gibt sich als Individualität auf, keine ist – im buchstäblichen Sinne – ›selbstlos‹. Den zeitgenössischen Betrachtern sprang es in die Augen, aber es wollte ihnen nicht in den Kopf: Hingabe und Gefügigkeit sind nicht ein und dasselbe. Das Werk ließ eine Utopie aufleuchten, die weit über die damalige Geschlechterdiskussion hinausgriff – so weit, dass die meisten Kritiker den weiblichen Aufstand, der sich unter der Festbeleuchtung einer öffentlichen Ausstellung abspielte, gar nicht wahrnahmen und Claudel sich gar den Vorwurf gefallen lassen musste, sie habe bloß den klassischen Kuss ihres ungleich berühmteren Liebhabers Rodin plagiiert. Hält man heute Abbildungen jener beiden Skulpturen gegeneinander, so drängt sich die erstaunliche Spannung geradezu auf [265]   ; im Jahr 1905 hingegen blieb sie dem Publikum unsichtbar . Wäre Kafka fähig gewesen zu einem freieren Blick? Leider hat die Bildhauerin selbst das reizvolle Experiment verhindert. Denn an ihren Bruder Paul, der 1909 als französischer Konsul nach Prag ging, schrieb sie: »Nimm meine Skulpturen nicht mit nach Prag, ich will in diesem Land keinesfalls ausstellen. {304} Bewunderer von derartigem Kaliber interessieren mich überhaupt nicht.« [266]  
    Sie war verrückt, aber sie wusste, wovon sie sprach. Selbst in Kreisen der literarischen und künstlerischen Avantgarde, wie erst in dem kulturellen Hinterhof, der Prag in ihren Augen war, gab es vor dem Ersten Weltkrieg nur sehr wenige Männer, die an eine erotische Utopie sich herantasteten, in der auch das weibliche Bewusstsein seinen Ort hatte. Zu diesen wenigen aber zählte der unbekannte Kafka. Er wusste, dass Hingabe ein Spiel mit der Selbstpreisgabe ist, doch gerade damit es Spiel bleibt, ist Selbstbewusstsein vonnöten. Hingabe ist eine Leistung psychischer Reife, das beobachtete Kafka vor allem an seiner Schwester Ottla, an der er »Empfänglichkeit und Abgrenzung, Hingabe und Selbstständigkeit, Scheu und

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