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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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kannte.
    Dass er tatsächlich im ›Josty‹ auftauchte, einer »literarisch angehauchten Konditorei« [262]   am Potsdamer Platz, wird Otto Pick erstaunt haben, wusste er doch, dass sich Kafka selbst in Prag an den einschlägigen Stammtischen kaum mehr sehen ließ. Noch erstaunter wäre er gewesen, hätte er gewusst, welch aggressive Aversion der sanfte und scheue Kafka zu überwinden hatte, um sich an einem Treffpunkt der Berliner Avantgarde zu zeigen: War es doch ausgerechnet die Dichterin Else Lasker-Schüler, um deretwillen Pick diese Reise vor allem unternommen hatte, denn er wollte sie zu einem Auftritt in Prag überreden. Da auf der langen Zugfahrt genügend Gelegenheit gewesen war, {301} literarische Pläne und Verabredungen zu besprechen, war Kafka genau im Bilde: Er wusste, dass er bei ›Josty‹ der Lasker-Schüler nebst ihrem alten Freund Paul Zech begegnen würde, und dazu noch dem jungen, polemischen Albert Ehrenstein, jenem »Fackelmenschen«, den wiederum Brod mit besonderem Hass verfolgte.
    Gegenüber der Berliner Geliebten verschwieg offenbar Kafka dieses denkwürdige Zusammentreffen. Dass wir dennoch davon wissen, verdankt sich einem überaus kuriosen Dokument, einer Ansichtskarte, die man – in bester Laune und den Gewohnheiten der Szene folgend – an den gemeinsamen Verleger Kurt Wolff in Leipzig schickte. »Von einer Vollversammlung Ihrer Verlagsautoren die besten Grüße«, schrieb zunächst Otto Pick, gefolgt von den Unterschriften der Brüder Carl und Albert Ehrenstein. Kafka nutzte die Gelegenheit zu einer knappen Mitteilung, denn Wolff hatte ihn vor einigen Tagen um das Manuskript der VERWANDLUNG gebeten, deren Gerücht ihn über seinen Lektor Franz Werfel erreicht hatte: »Sehr geehrter Herr Wolff! Glauben Sie Werfel nicht! Er kennt ja kein Wort von der Geschichte. Bis ich sie ins Reine werde haben schreiben lassen, schicke ich sie natürlich sehr gerne. Ihr ergebener F. Kafka«. Nach dieser grammatikalischen Leistung unterschrieben noch Paul Zech und als Letzte, mit unverkennbarer Handschrift, eine gewisse »Abigail Basileus III«. Ein Kleinod der deutschen Literaturgeschichte.
    Kurios an diesem Poststück ist nicht zuletzt, dass es von zwei der Unterzeichner, nämlich Kafka und Pick, auf seinem Weg zum Adressaten eingeholt wurde. Denn da nun auch die Rückreise in Richtung Prag gemeinsam unternommen wurde und Pick ohnehin ein Buchprojekt mit Wolff zu besprechen hatte, lag es nahe, auch Kafka zu einem kleinen Umweg über Leipzig zu bewegen. Seit kaum mehr als einem Monat gab es offiziell den ›Kurt Wolff Verlag‹, Ernst Rowohlt war ja längst ausgeschieden, und so hatte nun Kafka erstmals die Gelegenheit, den um vier Jahre jüngeren Kurt Wolff, mit dem er bisher nur wenige, überhöfliche Zeilen gewechselt hatte, als selbständigen Verleger kennen zu lernen. Auch Jizchak Löwy tauchte auf, der ostjüdische Schauspieler, der Kafka regelmäßig über seine unglückliche Wanderschaft auf dem Laufenden hielt, den er jedoch lange schon nicht mehr gesehen hatte.
    Wie ein gespenstisches Echo wirkt es, dass wir auch von diesem flüchtigen Beisammensein in Leipzig nur durch eine Postkarte wissen, {302} die Kafka gemeinsam mit anderen unterzeichnet hat. Ein kurzer Gruß an Felice, darunter fünf Namen: Franz, Franz Werfel, Fr. Khol, Otto Pick, J. Löwy. Das war gewiss Kafkas Idee; die Freunde hatten ja keine Ahnung, wen sie da eigentlich grüßten. Und wieder wäre es schön gewesen, den eigenen Worten nachzueilen. Doch diesmal rollte Kafkas Zug in entgegengesetzter Richtung. Spät in der Nacht kehrte er nach Prag zurück, müde bis in die letzte Faser.

    Eine glückliche Erschütterung war es, die ihm in jenen Ostertagen widerfahren war, ein glückverheißender Schock beinahe. »Weißt Du, dass Du mir jetzt nach meiner Rückkehr ein unbegreiflicheres Wunder bist als jemals?« [263]   Ihm war, als öffneten sich dicke Vorhänge vorm helllichten Mittag: Ausgelöscht waren die inneren Bilder von der Wirklichkeit, tagelang überstrahlte die Körperlichkeit realer Gegenwart das wuchernde Gespinst traumhafter Gedankenspiele. Die wirkliche Felice hatte er nicht erfinden können, er hatte sie erleben müssen. Aber umso weniger war es jetzt möglich, in jenen inneren Kokon zurückzuschlüpfen. Er musste wieder nach Berlin, und möglichst bald, das hatte er versprochen. Lieber sechzehn Stunden auf ratternden Rädern als weiter diese nach Tinte schmeckenden Träume. Doch an einem gewöhnlichen

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