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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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hier! Aber beeilt Euch, {279} damit Ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!‹
Es standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel Beifall zu finden. Es gab soviel Plakate, Plakaten glaubte niemand mehr. Und dieses Plakat war noch unwahrscheinlicher als Plakate sonst zu sein pflegen. Vor allem aber hatte es einen grossen Fehler, es stand kein Wort von der Bezahlung darin. Wäre sie auch nur ein wenig erwähnenswert gewesen, das Plakat hätte sie gewiss genannt; es hätte das Verlockendste nicht vergessen. Künstlerwerden wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden.«
    Dies die ersten jener Sätze, die Kafka »besonders liebte und herzergreifend schön vorlas«, die Eröffnung des Kapitels, das Max Brod unter dem selbst formulierten Titel ›Das Naturtheater von Oklahoma‹ aus Kafkas Nachlass veröffentlichte. [237]   Von Bezahlung wird in diesem Kapitel nirgendwo die Rede sein. Denn das Glück, welches das »Theater« zu bieten hat, ist nicht in Geld zu bemessen. Es ist das Glück, willkommen zu sein. Karl vermeidet es, das ebenso verführerische wie verdächtige Plakat genauer zu prüfen, denn er hat gelernt, dass auf jedes ›Ja‹ ein ›Aber‹ folgt. Doch er überfliegt den Text noch einmal, um jenes eine Wort tief in sich aufzunehmen: Jeder ist willkommen .
    Kafka ist es versagt geblieben, das legendäre Theater selbst zu schildern. Wir hören jedoch, es sei »fast grenzenlos« – und das muss es wohl auch sein, denn allein der Aufwand, den es zur Akquisition von Personal betreibt, hat die Ausmaße eines Wahlkampfs um die amerikanische Präsidentschaft. Von all den wuchernden sozialen Apparaturen, die Kafka im VERSCHOLLENEN mit genießerischer Akribie schildert, scheint jenes Theater die ungeheuerste – die Summe gleichsam aus Ozeandampfer, Industriekonzern und Großhotel. Nur schwer vorstellbar, wie Kafka sich die bildliche Gestaltung eines derart uferlosen Organismus gedacht haben könnte.
    Doch jetzt, da die eiserne Klammer des Verhängnisses gelöst ist und er entschlossen ist, eine Gegenwelt zu errichten, die mit dem bisherigen Schicksal Karls nur mehr lose verknüpft ist, erliegt Kafka der Lust am freien Fabulieren, es ist nicht zu übersehen. Hunderte von Frauen, alle als Engel verkleidet und Trompete blasend, sind dazu angestellt, Bewerber anzulocken. Wer den Mut hat, sich zu melden, wird nicht etwa in ein angemietetes Hinterzimmer geführt, sondern auf eine Pferderennbahn – beinahe scheint es, als seien die leitenden Herren {280} davon überzeugt, jeder zweite Bürger werde Haus und Hof verlassen, um ihrem Lockruf zu folgen, so gewaltig sind die Anstrengungen, dem erwarteten Ansturm gerecht zu werden. Schon beim Eintritt wird penibel sortiert: Es ist die Erste von Kafkas großen Bürokratiesatiren. Und wenn man auch jeden brauchen kann, ausnahmslos jeden, wie die Personalchefs des Theaters den überraschend wenigen Interessenten immer wieder versichern, so legen sie doch den größten Wert darauf, dass die erlogenen oder zumindest zweifelhaften Angaben, die ihnen tagtäglich aufgetischt werden und die sie willig hinnehmen, in den genau dafür vorgesehenen Aktenordnern landen und nirgendwo sonst. So gerät Karl zunächst in eine »Kanzlei für Ingenieure«, dann in eine zweite »für Leute mit technischen Kenntnissen«, endlich in eine dritte »für europäische Mittelschüler«. Im Manuskript gibt es gar einen »Leiter gewesener europäischer Mittelschüler«, aber das nimmt Kafka wieder zurück: Man muss nicht übertreiben.
    Ist das noch das »allermodernste Amerika«, das er einst zeigen wollte? Gewiss nicht, auch wenn er noch manche Übertreibung durchaus realen Vorbildern entlehnt – nicht zuletzt die großspurige Reklamesprache, die in Amerika schon um die Jahrhundertwende gang und gäbe war. Die Einzelheiten stimmen, das Ganze ist nicht von dieser Welt. Dass der Leser dieses märchenhafte Szenario dennoch mit Genuss in sich aufnimmt und es damit Kafka gewissermaßen glaubt – welchem Autor sonst würde man es glauben? –, liegt natürlich zuvorderst daran, dass es als Travestie leicht durchschaubar ist. Es ist eine Kafka-Welt, aber eine, die auf den Kopf gestellt ist: Verheißung statt Drohung, Erfüllung statt Enttäuschung.
    Hätte Kafka das Oklahoma-Kapitel vernichtet – wäre auch nur einer seiner Leser und Interpreten auf

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