Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
19. Jahrhundert in großer Zahl überliefert sind, brechen ab am Tag vor der Hochzeit; wer diese Briefschaften öffnet, der durchschreitet oft riesige Säle der Wunschentfaltung, während der letzte, {299} der einmal die Erfüllung bringen sollte, den Nachgeborenen für immer versperrt bleibt. Wie es ›ausging‹, erfahren wir gewöhnlich nur dann, wenn es schlecht ausging, weil Unglück sich wiederum leichter in Schrift verwandelt als Glück.
Zwei Menschen, die sich flüchtig begegnen und die dann im Verlauf von etlichen Monaten Hunderte intensivster, man ist versucht zu sagen: herzzerreißender Briefe wechseln, ehe sie sich in einer veränderten Welt wiedersehen – ein solches Paar macht jedem, der sich in ihr Leben drängt, die methodischen Grenzen des Biographischen geradezu schmerzhaft bewusst. Denn der Erwartungsdruck, unter dem eine solche Korrespondenz steht, überträgt sich unweigerlich auf den Leser. Wie die Beteiligten selbst fängt auch er zu phantasieren an, er malt sich mögliche Fortsetzungen aus und versucht sich vorzustellen, wie eine neuerliche Begegnung, zu der es doch endlich kommen muss, wohl verlaufen wird. Er beginnt, diese Botschaften als Briefroman zu lesen, beständig gestört von dem Gedanken, dass er den Augenblick der Entspannung nicht erleben wird. Beinahe ist es, als verfolge er atemlos die Vorbereitungen zu einem künftigen, sehr fernen Wagnis, wohl wissend, dass die Entscheidung zwischen Erfolg und Katastrophe erst jenseits der eigenen Lebensspanne fällt.
»Nachdem er ihr durch einen Boten mitgeteilt hatte, dass er um vier Uhr nachmittags wieder nach Prag werde abfahren müssen, trafen sie sich endlich und verbrachten einige qualvolle Stunden mit einem Spaziergang im Grunewald. Sie waren einander völlig fremd.« Mit diesen trockenen Worten resümiert Ernst Pawel das erste Wiedersehen Kafkas und Felice Bauers am Ostersonntag des Jahres 1913. Woher weiß er das? Es gibt keine Zeugen. Es gibt ebenso wenig eine überlieferte Schilderung aus dem Mund oder aus der Feder der Beteiligten. Fügt man die wenigen Erinnerungssplitter zusammen, die sich in Kafkas Korrespondenz der folgenden Wochen verstreut finden, so erfährt man wenig mehr, als dass die beiden am Nachmittag tatsächlich im Grunewald waren (nicht sehr lange allerdings) und dass sie dort nebeneinander auf einem Baumstamm saßen. Ja, und irgendwann, vielleicht beim Abschied, hat er sie in die Arme geschlossen, denn er erwähnt den Geruch ihres Halses. Flüchtig sah er auch ihren ahnungslosen Bruder. Und sie haben noch einmal telefoniert, bevor er abreiste. Genaueres kann man nicht wissen, und alles Übrige verdankt sich {300} der überschießenden Imagination des Biographen, die ihn ein kleines, doch unerlaubtes Stückchen zu weit trägt. So entstehen Legenden. [260]
Dass zwei Menschen in einer solchen Situation glücklich erregt einander entgegentaumeln, wäre denkbar allenfalls in einem Groschenroman. Auch Felice, so wendig und unbekümmert sie sonst war, muss empfunden haben, dass es sich um eine Prüfung handelte, deren Ergebnis nur sehr schwer revidierbar sein würde. Längst schon hatte sich doch jeder vom andern ein inneres Bild gemacht, mit dem er gleichsam auf vertrautem Fuß lebte, das war unvermeidlich trotz aller Fotografien, und nun galt es, dieses Bild an der Wirklichkeit behutsam zu korrigieren. Das war anstrengend und machte befangen, und wenn Kafka ihr wenige Tage später gestand, er habe am Telefon »die Seligkeit einer Verbindung« stärker empfunden als zuvor in ihrer Gegenwart [261] , so ist keineswegs ausgemacht, dass es der weniger komplizierten Felice nicht ebenso erging.
Wäre diese lang erwartete Begegnung, hinter der für Kafka seit Tagen und Wochen die ganze übrige Welt in Bedeutungslosigkeit versunken war, tatsächlich »qualvoll« verlaufen, so hätte er sich an diesem Tag wohl kaum mehr unter Menschen begeben. Sein Zug nach Prag war abgefahren, er musste noch bleiben. Niemand hätte ihn vermisst, wäre er ziellos in der Stadt umhergestrichen oder hätte er den nächsten Zug auf demselben Kanapee erwartet, auf dem er schon den größten Teil des Vormittags verbracht hatte. Doch er verspürte nicht das Bedürfnis, sich zu verstecken, im Gegenteil: Als hätte das Rendezvous mit Felice ihm einen Überschuss an sozialer Energie eingeflößt, beschloss er, nun endlich einmal einige der Menschen leibhaftig zu sehen, die er bisher nur aus den aufgeregten Berichten der Prager Freunde
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