Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
hegte Max Brod: »Aus Gesprächen weiß ich«, schrieb er 1927 im ›Nachwort‹ zur Erstausgabe des Romans, »daß das vorliegende unvollendete Kapitel über das ›Naturtheater von Oklahoma‹, ein Kapitel, dessen Einleitung Kafka besonders liebte und herzergreifend schön vorlas, das Schlußkapitel sein und versöhnlich ausklingen sollte. Mit rätselhaften Worten deutete Kafka lächelnd an, daß sein junger Held in diesem ›fast grenzenlosen‹ Theater Beruf, Freiheit, Rückhalt, ja sogar die Heimat und die Eltern wie durch einen paradiesischen Zauber wiederfinden werde.« Versteht sich, dass nicht nur Brod und seine Frau, sondern alle, die von der Fortsetzung des HEIZERS wussten – Baum, Weltsch, Ottla, Felice –, irgendwann einmal wissen wollten, wie es ›ausgeht‹. Aber Kafka sprach ungern über seine Texte, schon gar nicht über diejenigen, deren Schicksal ihm selbst noch dunkel war. Immerhin scheint ihm die gemeinsame Anstrengung der Freunde wenigstens eine Andeutung entlockt zu haben – eine Andeutung freilich, die angesichts von Kafkas bekanntem Pessimismus verdächtig klang und wohl niemanden wirklich zufrieden stellte.
Zu Recht. Denn am 30.September 1915 schreibt Kafka ins Tagebuch: »Rossmann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schliesslich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichterer Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen.« Das ist eindeutig und lässt für Deutungen keinen Raum. Kafka wollte seinen Helden sterben lassen, wollte ihn gar töten , Seite an Seite mit dem Angeklagten Josef K., und er schreibt darüber mit einer kalten Bestimmtheit, als sei diese Tat längst geschehen und unwiderrufliche Vergangenheit. Es steht Aussage gegen Aussage: eine verwirrende Aktenlage.
Für Brods Version spricht natürlich das ›Oklahoma‹-Kapitel selbst, dessen Entstehungsgeschichte sonderbar genug ist. Als Kafka im August {278} 1914, inmitten eines neuerlichen produktiven Schubs, die alten Hefte wieder vornahm, las er in ihnen mit anderen Augen als noch eineinhalb Jahre zuvor. Er hatte die zweite Fassung des Romans vollständig aufbewahrt – schon dies ein Zeichen dafür, dass er sich noch keineswegs verabschiedet hatte von der Welt des VERSCHOLLENEN. Zuviel schon hatte er davon preisgegeben. Und er hatte sein harsches Urteil offenbar revidiert, es schien ihm jetzt keineswegs mehr ausgemacht, dass der Roman Fragment bleiben müsse, die Figuren waren noch lebendig genug, einen letzten Versuch war es wert. Doch anstatt den Text zunächst einmal kritisch durchzugehen, womit wohl beinahe jeder andere Autor begonnen hätte, setzte er die Feder einfach dort wieder an, wo er im Januar 1913 kapituliert hatte: auf demselben Blatt, unter der letzten, schon ein wenig verfärbten Zeile. Und diese forcierte Operation war erfolgreich, die Nahtstelle blieb unsichtbar [236] , so beherrscht versetzte sich Kafka zurück in einen Traum, den er Jahre zuvor erdacht hatte.
Er übersprang einige Episoden, führte seinen Helden im Eiltempo weiter auf seinem Weg in die Nachtzone Amerikas: ›Ausreise Bruneldas‹, vier groteske Seiten, Karl als Zugpferd, die monströse Diva auf dem Handkarren, ein unschuldiges Paar, unterwegs zu einem Bordell mit dem wahrhaft verlockenden Namen ›Unternehmen Nr. 25‹. Hier liefert Karl seine Last ab, bestaunt den Schmutz, den er eher fühlt als sieht, lässt die erste Rüge eines neuen Peinigers an sich abgleiten wie ein gleichgültiges Geräusch. »Traurig … «, schreibt Kafka, dann streicht er dieses Wort und verbessert: » Langsam nahm er das Tuch von Brunelda ab.« Die letzte Korrektur auf dem Weg nach unten, sie ist notwendig, denn Kafka selbst ist traurig, ist auf neuen Schmutz und neue Gewalt noch viel weniger erpicht als sein junges Alter ego. Wieder gibt er auf, bricht ab, mitten im Satz. Und dies ist das Ende, an dem das eigentliche Wunder dieses Romans beginnt.
»Karl sah an einer Strassenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: ›Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Teater in Oklahama aufgenommen! Das große Teater von Oklahama ruft Euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will melde sich! Wir sind das Teater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich
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