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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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›liebende‹ Paare. Zur Entfaltung von Intimität blieb ihnen weder Raum noch Zeit, dafür sorgten sozialer und moralischer Druck. Dann aber die Hochzeit: Von einer Stunde zur anderen ist das Verbotene nicht nur erlaubt, sondern Pflicht . Und der Gedanke daran nötigte mancher Braut, manchem Bräutigam einen {308} schaudernden Blick auf den ›Partner‹ ab.
    Warum Recht und Gesetz überhaupt sich hier einmischen sollten, hatte erst vier Generationen zuvor Immanuel Kant auf verblüffende Weise begründet:
»Denn der natürliche Gebrauch, den ein Geschlecht von den Geschlechtsorganen des anderen macht, ist ein Genuß , zu dem sich ein Teil dem anderen hingibt. In diesem Akt macht sich ein Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet. Nur unter der einzigen Bedingung ist dieses möglich, dass, indem die eine Person von der anderen, gleich als Sache , erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her.« [270]  
    An den eigenen Haaren zieht sich hier das bürgerliche Subjekt aus einem Sumpf, dessen wirkliche Tiefe es noch gar nicht erahnt. Minus mal Minus ergibt Plus. Machst du mich zur Sache, mache ich dich zur Sache, und unser beider Würde ist wiederhergestellt. Kant bemerkt nicht, dass er damit ein starkes Argument für den vertraglichen Schutz der Prostitution liefert. Vor allem aber entgeht ihm (oder es interessiert ihn nicht), dass der rechtliche und sittliche Status, den er sich als etwas Objektives vorstellt, auf die subjektive Wirklichkeit des Einzelnen massiv zurückschlägt. Es kann ja keine Rede davon sein, dass der besitzergreifende Blick, den ein Mann auf eine Frau richtet, durch dessen zeremoniell verankerte ›Rechtmäßigkeit‹ veredelt oder auch nur entschärft würde. Im Gegenteil, erst recht unter diesem Blick erstarrt der Leib des anderen zu Fleisch. Es ist ein Blick, der dem eigenen sexuellen Begehren angstvoll vorauseilt. Nicht mehr lautet die Frage: Begehre ich diesen Körper, sondern: Werde ich ihn begehren können, wenn es so weit ist? Dieser Blick ist kaum weniger destruktiv als der des ›Freiers‹ in der Hurengasse. Er zerlegt das Bild des anderen in eine Summe partieller Reize, die, für sich genommen, niemals schön, sondern bestenfalls – und äußerst selten – perfekt sind. (Und Perfektion schleppt wiederum eigene, andere Ängste mit sich.)
    Doch zu wünschen bleibt immer etwas, kein Körper durchläuft diese Prüfung ohne Beanstandungen. Bei Felice sind es die Zähne, zerstört von allzu vielen Süßigkeiten, entstellt von zahllosen Plomben und Goldkronen. Ja, erst jetzt erblickte Kafka »das wirkliche, menschliche, notwendig fehlerhafte Gesicht«, doch Felice wird kaum geahnt haben, dass diese so sympathisch offenen Worte auf einen {309} wirklichen Schrecken zurückgingen. Er hatte den Blick senken müssen, das Gold und das graugelbe Porzellan in ihrem Mund stießen ihn ab, dann schaute er wieder hin, starrte förmlich darauf, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte. Jetzt, da jenes Gesicht etwas von ihm forderte, sah er es zum ersten Male nackt . [271]  

    Es ist ein nahe liegendes, freilich auch zweifelhaftes Gedankenspiel, sich vorzustellen, wie wohl ein Nervenarzt oder ein Psychoanalytiker auf Kafkas Angst reagiert hätte. Die Eigengesetzlichkeit des Psychischen war den Zeitgenossen durchaus vertraut, längst waren psychologische und selbst neurologische und psychiatrische Fachbegriffe in die Sprache des Alltags eingewandert, und dass bestimmte körperliche Symptome nicht an Ort und Stelle, sondern nur ›im Kopf‹ zu kurieren sind, war Gemeinplatz. Auch den Begriff ›psychische Impotenz‹ hatte man schon in zahllosen öffentlichen Vorträgen gehört, und jeder wusste: Das hat etwas mit ›Nervosität‹ zu tun. Eben war Alfred Adlers Hauptwerk erschienen, ÜBER DEN NERVÖSEN CHARAKTER, und hier war zu lesen, psychische Impotenz gehöre zu den unbewussten Sicherungsmechanismen des Neurotikers, der sich damit das andere Geschlecht vom Leib zu halten suche. Daher sei Impotenz, ebenso wie Frigidität, ein sicheres Zeichen mangelnder Hingabe . [272]  
    Kafka waren diese Thesen sicherlich bekannt, und vielleicht war er sogar unter den Zuhörern, als Adler am 3.Januar 1913 im Prager Karolinum auftrat. Diese zeittypische Form der Aufklärung – mit ihrer notorischen Unterschätzung der kulturellen und ideologischen Prägung

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