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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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aller Geschlechterverhältnisse – wird ihn jedoch kaum beeindruckt haben. Kafka war immun gegen das Auftrumpfen wissenschaftlicher Begriffe; ihm muss der ärztliche Optimismus, den Adler ausstrahlte, geradezu als naiv erschienen sein. Und weder in seinen Briefen noch im Tagebuch ist ein Indiz dafür zu finden, dass er diesen auf ›geistige Gesundheit‹ abgestellten Blick jemals ernsthaft sich zu Eigen gemacht hätte.
    Freilich, hätte sich Kafka tatsächlich einem Analytiker anvertraut – wie dies Hesse, Broch, Arnold Zweig und sogar Musil wagten –, so wäre sehr bald psychisches ›Material‹ zutage getreten, das die freudianische Fakultät in höchstes Erstaunen versetzt und zugleich von der eigenen Zuständigkeit restlos überzeugt hätte. Denn die Zwangsgedanken, die Kafka nun schon seit Jahren heimsuchten, hatten mittlerweile {310} die Dynamik innerer Gewaltakte angenommen: Wie Waffen eines unsichtbaren, in den eigenen Eingeweiden hockenden Feindes fielen sie über ihn her. Phantasien der Unterwerfung, der Kleinheit und Minderwertigkeit waren es anfangs gewesen; Kafka hatte sie adaptiert, symbolisch überformt, hatte »Geschichten« daraus gemacht. Das war ein »äusserst wollüstiges Geschäft«, wie er Felice gestand, so »ausnehmend ekelhaft« auch die schriftlichen Resultate waren. [273]   Aber es blieb Spiel; noch jonglierte Kafka mit den Messern, die ihm zugeworfen wurden, und wenn er sich daran verletzte, tat es gut, sich selbst ein wenig zu bemitleiden. Er schlüpfte in den Panzer des Gregor Samsa, dort war alles erlaubt, selbst der Traum vom Inzest, selbst Tränen über den eigenen Tod.
    Der Schriftsteller ist allmächtig; sein Wille geschieht, wo immer er sich regt. So ist es durchaus denkbar, dass Kafka für eine Weile die Illusion hegte, die Gespenster auf diese Weise loszuwerden. Dafür spricht vor allem das geringe Interesse, das er an der VERWANDLUNG zeigte, kaum war der letzte Punkt gesetzt. Als habe er damit jene angsterregenden Phantasmen buchstäblich ad acta gelegt. Doch schon kurz darauf unterläuft ihm eine Bemerkung, die beweist, dass sich das Imaginäre nicht aus dem Leben in die Literatur drängen lässt: »sag mir«, fordert er Felice auf, »dass Du mich liebbehalten wirst, wie ich auch sein werde, liebbehalten um jeden Preis, es gäbe keine Entwürdigung, die ich nicht auf mich nehmen würde – aber wo treibe ich da hin?« [274]  
    Kafka erschrickt. Wo treibe ich hin? In den Wahnsinn, zweifellos. Noch häufig wird er davon sprechen. Doch die monotonen Bilder der Unterwerfung, der tierhaften Verlassenheit sind bloße Schatten von Schlimmerem, Unaussprechlichem, das er der fernen Frau nicht zumuten kann. Die volle Wahrheit erfährt sie nicht – darum geht Trost ihr leicht von den Lippen. Franz, das sind Bilder, nur Bilder . Umso schlimmer. Denn wenn schon Bilder eine solche Macht über ihn hatten, wie sollte er denn künftig den Forderungen der Wirklichkeit genügen, deren Repräsentantin doch eben Felice war? Nein, was solche Gewalt auszuüben vermag, ist kein flüchtiger Traum. Es sind nicht Bilder, Felice, es sind Tatsachen.
    Kafka hat die selbstzerstörerischen Phantasien, die ihn jetzt immer häufiger quälten, wahrscheinlich nur gegenüber Brod aussprechen können. Brod war geduldig; er wusste, dass Kafka auch wieder lachen {311} konnte, wenn das Furchtbare gesagt war, und längst hatte er sich an die schockierenden, keine Selbstentblößung scheuenden Sätze gewöhnt, die aus dem sanften Freund bisweilen hervorbrachen. Das ging vorüber. Die Botschaft jedoch, die Brod am 3.April 1913 auf seinem Schreibtisch in der Prager Postdirektion vorfand – bedenklich allein schon wegen ihrer Länge –, war von ganz anderer Qualität, und seit Kafkas Selbstmorddrohung vom vergangenen Oktober war ihm Derartiges wohl nicht mehr vor Augen gekommen:
»Liebster Max! Wenn es nicht gar zu dumm aussehn würde ohne genügende Erklärung – und wie brächte ich dafür eine genügende Erklärung in Worten zusammen! – einfach zu sagen, dass ich, so wie ich bin, am besten tue, mich nirgends sehen zu lassen – so wäre das die richtigste Antwort. Sonst hielt ich mich, wenn es schon nirgends sonst gieng, wenigstens am Bureau fest, heute dagegen wüsste ich, wenn ich nur meiner Lust folgen würde und viele Hemmungen gibt es nicht, nichts besseres, als meinem Direktor mich zu Füssen zu werfen und ihn zu bitten, mich aus Menschlichkeit (andere Gründe sehe ich nicht, die Aussenwelt sieht

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