Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
In der Summe reichte das zu chronisch schlechter Laune, nicht aber für ein ärztliches Attest samt Kuraufenthalt. Da lag es nahe, die Kur nach Prag zu holen, und weil das ohne radikalen Wechsel der Kulisse nicht gut zu bewerkstelligen war, fuhr Kafka hinaus in einen Vorort der Arbeiter und armen Leute, wo niemand ihn kannte, wo niemand Deutsch sprach und wo er nicht alle paar Schritte den Hut lüften musste. Wenigstens einmal täglich wollte er ›hinaus‹, hinaus aus allem.
Dass ihm aber jetzt, mitten im Frühling, das bewährte Schwimmen, Rudern und Wandern nicht mehr genügte, ist ein sicheres Indiz dafür, dass es nicht die körperlichen Malaisen waren, die ihn aus der Stadt trieben, vielmehr die psychischen Quälereien, die Zwangsvorstellungen, von denen nun Kafka gründlich genug hatte. Sexual- und Potenzängste, Unterwerfungs- und Zerstückelungsphantasien – dieser entsetzliche Wirbel war, so schien ihm, nur noch dadurch aufzulösen, dass er den ganzen ›Apparat‹ in eine andere Bahn warf und seine Gedanken in eine Richtung lockte, in der sie – anstatt wild auf der Stelle zu kreisen – ein nahes, leicht erreichbares Ziel fanden. Einfache, vor allem sinnvolle Arbeit war es, nach der er sich sehnte, und das Experiment, für das er sich entschied, war im Grunde nichts anderes als das milde geistige Therapeutikum, auf das auch schon Hunderttausende von Schrebergärtnern verfallen waren.
In der Gärtnerei Dvorský, bei der er nach längerer Suche am 3.April vorsprach, gab es sowohl Blumen- als auch Gemüsebeete – eine Wahl, die Kafka leicht fiel. Blumen konnte er wenig abgewinnen; das den Vegetarier auszeichnende, methodische Interesse an der eigenen Nahrung hingegen kultivierte er schon seit längerem. Er habe vor, log Kafka, sich in Kürze einen eigenen Gemüsegarten anzuschaffen, und benötige deshalb ein wenig Anleitung; täglich zwei Stunden, am frühen Abend vielleicht. Eine geschickte Einführung; denn dass Kafka {314} weder handwerklich geübt war noch überhaupt ins soziale Milieu von Nusle gehörte, wäre ohnehin nicht lange zu verbergen gewesen. Man schlug also ein. Und vier Tage später schon trat Kafka seinen neuen Dienst an, in Hemd und Hose, während kühler Regen auf ihn niederging.
Die Nusler Lehne bietet einen schönen Blick auf die Festung Vyšehrad; viele Gärten und Obstbäume gab es dort, zur Selbstversorgung der Anwohner, dazwischen freilich auch Grünflächen, auf denen sich nach Feierabend die Familien der Arbeiter streckten, wo Bier ausgeschenkt wurde, auf Karussells und Schifferschaukeln Mädchen kreischten und Blasmusik für eine Atmosphäre sorgte, die eher an den Wurstelprater erinnerte als an eine Kuranstalt. Nusle war nicht ›Jungborn‹, und der Geruch gegrillter Würste war mit den sinnlichen Erinnerungen an den Harz nur schwer zu vereinbaren. Kafka musste sich damit abfinden, dass er, der ›hinaus‹ wollte, nun eben anderswo ›hinein‹ geriet, in eine soziale Parallelwelt, die alles andere war als ein Schonraum für hypochondrische Großstädter.
Kafka kannte natürlich diese Umgebung seit langem: Vyšehrad, Nusle, Michle, das waren Orte, die man durchquerte, nachdem man die Elektrische an der Endstation verlassen hatte, um ins Grüne zu gelangen; und das große, alljährliche Volksfest von Nusle, die ›Fidlowacka‹, hatte er wahrscheinlich schon als Kind erlebt. Als Versicherungsbeamter hatte dann Kafka mit Arbeitern beinahe täglich zu tun, und um handgreiflich zu erfahren, dass kleine Leute sich anders vergnügen als große, brauchte man nur von der wohlgepflegten Sophieninsel hinunterzufahren zur Hetzinsel. Hier hatte er schon häufiger gesessen, bisweilen auch gemeinsam mit Brod, in Gartenkneipen, am Rande eines nicht eben vornehmen Rummels.
Doch in Nusle geschah noch etwas anderes, auf das Kafka nicht gefasst war. Es zählte ja zu seinen Eigenheiten – und im ›Jungborn‹ hatte es sich erneut bewährt –, dass er gegenüber fremden, intellektuell anspruchslosen Menschen weitaus weniger gehemmt war, sich offener, freundlicher und nachsichtiger auf alle sozialen Anforderungen und Zumutungen einlassen konnte als dort, wo jedes Gesicht wie ein Abgrund war. Zweifellos hatte das auch mit dem verbreiteten Vorurteil zu tun, dass in einfachen Verhältnissen einfache Menschen leben (ein Irrtum, den ein Blick in eine beliebige Nervenheilstätte sofort zurechtgerückt hätte). Wo aber Kafka nicht fürchten musste, Zeuge von {315} Qualen zu werden, die ihn an
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