Kahlschlag (German Edition)
nachzusehen, jetzt, wo Pete tot ist. Und wenn jemand nachsieht – was soll’s? Die Originalunterlagen waren verschwunden. Und dann kommt Sunset mit ihnen daher. Ich hätte sie bitten sollen, sie mir zu geben. Wenn Sunset sie mir gegeben hätte, gäbe es kein Problem.«
»Warum haben Sie sie nicht gefragt?«
Rooster schüttelte den Kopf. »Ich mache immer das Verkehrte. Ich brauche diese Papiere zurück. Um ihretwillen. Und um meinetwillen. Ich habe gedacht, vielleicht können Sie die besorgen, um ihretwillen. Das wäre mir auch hundert Dollar wert.«
»Ganz schön viel Geld.«
Rooster nickte.
»Aber Sie haben mir immer noch nicht alles erzählt.«
»Sie müssen nur Folgendes wissen: Bringen Sie die Papiere zurück, dann passiert ihr nichts. Es gibt da nämlich jemanden, der würde ihr wehtun, um an diese Papiere zu kommen.«
»McBride?«
»Ja, McBride. Vielleicht nicht er selbst, aber er würde jemanden beauftragen. Besorgen Sie die Papiere, die Karten, dann gibt’s vielleicht kein Problem.«
»Zeichnen Sie doch einfach ein paar neue Karten.«
»Wenn dann die alten auftauchen, gibt es erst recht Ärger.«
»Wissen Sie was?«, sagte Hillbilly. »Hundert Dollar klingt gut, aber dass Sie Angst haben und der Bürgermeister vermisst wird, das klingt gar nicht gut. Für mich ist es das Beste, wenn ich unsere Unterhaltung vergesse und mich von Sunset fernhalte. Ich hatte eine gute Zeit mit ihr, aber jetzt will ich was Neues anfangen.«
»Vielleicht haben Sie deutlich mehr auf dem Kasten, als ich gedacht habe.«
»Wenn’s drum geht, auf mich aufzupassen, hab ich jede Menge auf dem Kasten.«
»Und was ist mit Sunset?«
»Ich hab nichts gegen sie. Sie kann einen Mann wirklich glücklich machen. Nur dass ich so glücklich gar nicht sein will – immer mit derselben Frau. So bin ich nun mal nicht. Und für mich gibt’s Wichtigeres als lumpige hundert Dollar. Ich leb nach der Devise: Nimm den Weg, wo’s keine Probleme gibt, und wenn welche auftauchen, mach nen Bogen drum rum. Bis dann, Rooster.«
Hillbilly ging die Straße hinunter. Rooster sah ihm eine Zeit lang hinterher, dann wurde er von einem Schatten abgelenkt, der über die Hauptstraße flog. Rooster sah hoch. Erst dachte er, es sei ein Vogelschwarm, aber dafür flogen sie zu nah am Boden, und er konnte ein durchdringendes Summen hören.
Insekten. Ein riesiger Schwarm. Plötzlich machten sie alle auf einmal kehrt, schossen zur Anhöhe auf dem Überhang hinter dem roten Haus mit McBrides Wohnung hinauf und verschwanden im Wald.
Es war der Tag der Ortsversammlung. Sunset musste den ganzen Morgen daran denken, genau wie an Hillbilly. Sie schickte Clyde los, um ihn zu suchen. Clyde hatte keine Lust dazu, aber sie wusste, er würde es tun, wusste, dass sie Macht über ihn hatte, und kam sich deswegen gleichzeitig wie ein Arschloch vor. Aber nicht so sehr, dass sie diese Macht nicht doch ausgenutzt hätte.
Als Sunset zu ihrem Wagen ging, fiel ihr auf, dass zwischen den Ästen der Bäume viel Platz war und sie mehr Licht als üblich durchließen. Einen Moment lang war sie verwirrt, aber dann wurde ihr klar, dass es an der trockenen Hitze der letzten Wochen lag. Die Bäume waren durstig, die Äste hingen herab, die Blätter welkten, wurden braun und fielen ab. Das vertrocknete Laub knackte unter ihren Füßen wie Zwieback.
Sunset dachte gerade über die Versammlung nach, als Marilyns Pick-up in den Hof rumpelte und stehen blieb. Im Fahrerhaus saßen nicht nur Marilyn und Karen, sondern beim Beifahrerfenster auch noch ein großer, recht gutaussehender älterer Mann. Auf der Ladefläche hockte ein Junge.
Nachdem sie ausgestiegen waren, blieb der Mann, der eine abgetragene Anzugjacke anhatte, beim Wagen, und der Junge kletterte hinten auf der Ladefläche herum. Karen ging auf ihre Mutter zu und bückte sich, um Ben zu streicheln, der sprungbereit neben Sunset saß.
»Ist Hillbilly hier?«, fragte Karen, und bei den Worten brach ihr die Stimme.
»Nein«, entgegnete Sunset.
»Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht. Wer ist das?«
»Keine Ahnung. Den haben wir bei Uncle Riley abgeholt. Ich habe gehört, der Junge ist von einer Schlange gebissen worden. Mama, der glotzt mich die ganze Zeit an. Er macht mich nervös.«
»Warum kommen sie nicht her?«
»Sie haben Angst vor Ben.«
»Dann nimm Ben mit ins Zelt. Sorg dafür, dass er sich hinlegt.«
»Kann ich später mal mit dir reden?«
»Klar. Bring Ben rein.«
»Komm, Ben.«
Ben und Karen
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