Kahlschlag (German Edition)
verschwanden im Zelt. Marilyn war an der Pumpe stehen geblieben und hatte Wasser hochgepumpt, um sich das Gesicht zu waschen. Sie war ganz nass, als sie zu Sunset hinübersah. »Das ist Lee. Der Junge nennt sich Goose.«
»Wer sind die beiden?«
»Der Mann ist jemand, den du kennenlernen solltest.«
»So?«
»Lee«, rief Marilyn. »Kommen Sie her.«
Lee schlenderte herbei und nickte. »Hallo, Sunset«, sagte er.
»Sie kennen mich?«, fragte Sunset.
»Nein. Aber ich würde Sie gern kennenlernen.«
Sunset blickte sich hilfesuchend nach Marilyn um, aber die hatte sich bereits umgedreht und marschierte auf die große Eiche an der Straße zu. Goose verschwand gerade in Richtung Plumpsklo.
»Ich kenne Sie also nicht?«, fragte Sunset.
Lee schüttelte den Kopf. »Nein. Aber zwischen uns besteht eine Verbindung. Ich bin dein Vater.«
Sunset und Lee sahen sich lange an. Dann gab Sunset ihm plötzlich eine Ohrfeige, die so kräftig war, dass Lee in die Knie ging. Langsam stand er auf, die Hand gegen das gerötete Gesicht gepresst.
»Du Dreckskerl«, sagte Sunset.
»Für jemanden, der so klein ist, schlägst du ganz schön fest zu.«
»Dreckskerl.«
»Zweifellos«, erwiderte er. »Falls es irgendwie von Bedeutung ist: Ich wusste nicht, dass es dich gibt.«
Karen und Ben streckten die Köpfe aus dem Zelt. Goose kam in dem Moment vom Plumpsklo, als Lee aufstand.
»Lee, alles in Ordnung?«, rief er.
»Alles bestens. Bleib, wo du bist.«
»Geh wieder ins Zelt«, sagte Sunset zu Karen.
»Aber Mama ...«
»Verdammt, tu einmal, wenigstens einmal, was ich dir sage.«
Karens Kopf verschwand im Zelt, und der von Ben ebenfalls.
»Du hast dich also mit meiner Mutter vergnügt, und dann bist du abgehauen. Und das war es dann, wie?«
Er nickte. »Ja, das habe ich getan. Aber von dir habe ich nichts gewusst, jedenfalls nicht, bis Marilyn es mir erzählt hat.«
Sunset warf Marilyn einen Blick zu. Marilyn, die bei der Eiche stand, zuckte mit den Schultern.
»Nach all den Jahren kreuzt du hier auf, und das soll mir was bedeuten?«
»Es muss dir nichts bedeuten. Ich verstehe, warum es dir vielleicht nichts bedeutet. Aber ich wusste nichts von dir, Sunset. Ich war jung. Deine Mutter war jung. Wir haben einen Fehler gemacht. Verdammt, ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe sie verführt, dabei bin ich Priester ... jedenfalls war ich das damals. Jetzt nicht mehr.«
»Was willst du von mir?«
»Ein paar Minuten.«
»Du schuldest ihm nichts«, mischte sich Marilyn aus sicherem Abstand ein. »Aber vielleicht lohnt es sich, ihm zuzuhören.«
»Du bist abgehauen«, sagte Sunset. »Meine Mutter ist abgehauen. Wobei sie wenigstens eine Zeit lang für mich gesorgt und mir ein hübsches Paar Schuhe dagelassen hat. Ziemlich abgetragen, sollte ich vielleicht hinzufügen. Und jetzt kreuzt du plötzlich hier auf. Ich bin verprügelt und vergewaltigt worden, habe meinen Mann erschossen, seine Freundin tot aufgefunden, ihren Säugling ausgegraben, und jetzt kommst du daher. Was zum Teufel hast du gemacht, alter Mann? Die ganze Familie mit einem Fluch belegt?«
»In gewisser Weise schon. Deshalb bin ich hier. War das meine Enkelin?«
»Ich gehe davon aus, dass du von dem Mädchen mit den schwarzen Haaren sprichst, nicht von dem Hund?«
Lee seufzte. »Ich weiß, wann ich mich geschlagen geben muss. Aber hör dir Folgendes noch an, und nur das: Ich möchte dich kennenlernen. Ich kenne dich noch gar nicht und habe dich schon lieb ...«
»Schwachsinn.«
»Ich weiß, wie das klingt.«
»Du könntest das gar nicht.«
»Tue ich aber. Du bist mein eigenes Fleisch und Blut. Das einzige Fleisch und Blut, das ich habe ... du und Karen, nicht der Hund. Und ich habe dich lieb, weil ich glaube, dass Gott mich hierher zurückgeführt hat, um etwas wieder gutzumachen. Um dich vorbehaltlos lieb zu haben.«
»Nett von dir. Und wenn Gott so klug ist, warum hat er dich dann überhaupt davonlaufen lassen? Das beantworte mir mal.«
»Ich bin davongelaufen, nicht Gott.«
»Wohl wahr. Nun, ich bin von euch beiden nicht sonderlich begeistert.«
»Sunset«, sagte Marilyn. »Wenn wir jung sind, sind wir dumm. Du und ich, wir sollten uns da auskennen. Mit Dummheit in Bezug auf bestimmte Männer. Und mit anderen Dummheiten.«
»Ich habe mich einmal von einem Mann täuschen lassen, und zwar übel täuschen lassen, und ein zweites Mal passiert mir das nicht. Nicht mal, wenn er mein Vater ist.«
»Wir werden immer getäuscht«, entgegnete Marilyn.
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