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Kain

Kain

Titel: Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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verschwinden lassen, dann hätte ich Abel nicht getötet, und wir könnten jetzt beide vor dem Haus stehen und in den Regen schauen, und Abel würde einsehen, dass der Herr wirklich unrecht daran getan hat, nicht anzunehmen, was ich ihm als Einziges opfern konnte, die Samen und die Ähren, Früchte meiner Arbeit und meines Schweißes, und er wäre noch am Leben und wir wären so gute Freunde wie stets zuvor. Über vergossene Milch zu weinen ist gar nicht so sinnlos, wie man sagt, es ist in gewisser Hinsicht lehrreich, weil es uns das wahre Ausmaß an Leichtfertigkeit so mancher menschlicher Verhaltensweisen zeigt, da die Milch, ist sie einmal vergossen, auch vergossen bleibt und es nur noch gilt, sie aufzuwischen, und wenn Abel eines heimtückischen Todes gestorben ist, dann deshalb, weil ihn jemand um sein Leben gebracht hat. Überlegungen anzustellen, während einem der Regen auf den Kopf fällt, ist fraglos nicht die bequemste Sache der Welt, und vielleicht hörte es deshalb schlagartig auf zu regnen, damit Kain ungehindert nachdenken, seinen Gedankengängen frei folgen konnte, bis er merkte, wohin sie ihn führten. Doch das werden wir nie erfahren, wir nicht und auch er nicht, denn die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchende verfallene Hütte riss ihn aus seinen Überlegungen und seinem Kummer. Spuren zeigten, dass die Erde hinter dem Haus bearbeitet worden war, doch war ebenso offensichtlich, dass die Bewohner es schon vor langer Zeit verlassen hatten, vielleicht aber auch vor nicht ganz so langer Zeit, bedenkt man, wie wenig haltbar und stabil die Baumaterialien solch einfacher Behausungen sind, die ja ständig Ausbesserungen erfordern, wenn sie nicht in einer einzigen Saison einstürzen sollen. Fehlt eine pflegende Hand, wird das Haus kaum der Zerstörungskraft der Witterung standhalten, insbesondere des Regens, der den Lehm durchtränkt, und des Windes, der wie mit grobem Schmirgelpapier bewehrt daran schabt. Einige Innenwände waren weggebrochen, das Dach zum größten Teil eingestürzt, nur ein relativ geschütztes Eckchen war erhalten, und dort ließ sich der erschöpfte Wanderer fallen. Er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, nicht nur weil er so weit gegangen war, sondern auch weil ihn allmählich Hunger quälte. Der Tag neigte sich, bald schon würde es dunkel werden. Ich bleibe hier, sagte Kain laut, wie er es gewohnt war, als müsste er sich selbst beruhigen, er, den in diesem Augenblick niemand bedroht, vermutlich weiß nicht einmal der Herr, wo er sich befindet. Obwohl es nicht allzu kalt war, ließ ihn die nasse, an der Haut klebende Tunika erschauern. Wenn er sie auszöge, überlegte er, würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, denn erstens würde das Frösteln aufhören, und außerdem würde die Tunika, da aus eher dünnem denn dickem Stoff gefertigt, rasch trocknen. Also zog er sie aus und fühlte sich auf der Stelle besser. Zwar schien es ihm nicht angebracht, so nackt zu sein, wie er auf die Welt gekommen war, doch war er allein, ohne Zeugen, niemand war da, der ihn hätte berühren können. Dieser Gedanke löste ein neuerliches Erschauern aus, nicht so wie das unmittelbar nach der Berührung mit der nassen Tunika, sondern eine Art Erzittern in der Gegend des Geschlechts, ein leichtes Anschwellen, das alsbald wieder verschwand, als wäre es über sich selbst beschämt. Kain wusste, was das war, doch trotz seiner Jugend schenkte er dem keine besondere Beachtung, oder aber er fürchtete, das bringe ihm mehr Schlechtes als Gutes ein. Er rollte sich in seiner Ecke zusammen, zog die Knie an die Brust und schlief ein. Die morgendliche Kälte weckte ihn. Er streckte die Hand nach der Tunika aus, spürte, dass sie noch ein wenig feucht war, beschloss dennoch, sie überzuziehen, am Körper würde sie endgültig trocknen. Er hatte weder Träume noch Albträume gehabt, hatte geschlafen, wie man vermutet, dass Steine schlafen, ohne Bewusstsein, ohne Verantwortung, ohne Schuldgefühl, doch als er beim ersten Tageslicht erwachte, waren seine Worte, Ich habe meinen Bruder getötet. Wären es andere Zeiten gewesen, hätte er vielleicht geweint, wäre vielleicht verzweifelt gewesen, hätte sich vielleicht mit den Fäusten gegen die Brust und den Kopf geschlagen, doch so, wie die Dinge stehen, da die Welt praktisch gerade erst eingeweiht ist, fehlen uns noch zu viele Wörter, um den Versuch zu unternehmen, zu erklären, wer wir sind, und nicht immer verfügen wir über jene, die es am besten

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