Kinder der Dunkelheit
LUCA
Prolog
Noch nie war ihm in den Sinn gekommen, dass er sterben könnte. Es hatte keinen Grund gegeben, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Gut, ab und zu hatte er sich in seinen jugendlich-heroischen Tagträumen vorgestellt, wie es wohl wäre, sich wegen einer schönen Frau zu duellieren. Doch in seinen Träumen war nicht er es gewesen, den der Tod ereilt hatte. Wie auch? – Es waren schließlich seine Fantasien, deren Ausgang nur er allein bestimmte.
Jetzt aber waren es die Träume eines Fremden, eines Me nschen, dem das Leben anderer weder heilig noch in irgendeiner Art wertvoll war. Vor allem sein eigenes Leben! Wie abgrundtief musste der Hass dieses Mannes sein, um ihn so sehr zu quälen? Wann immer Schauergeschichten über Folter oder die Verbrennung von Ketzern in sein behütetes Leben eingedrungen waren, hatte er sie mit einem bedauernden Kopfschütteln kommentiert, doch damit war seine Anteilnahme auch schon erschöpft gewesen.
Seit letzter Nacht wusste er, was es bedeutete, gefoltert zu werden. Wusste, was es hieß, diese unbeschreiblichen Schmerzen zu ertragen, die glühende Speerspitzen, Peitschen mit Widerhaken, in Salz getauchte scharfe Dolche und langsam trocknende Lederriemen hervorrufen konnten.
Als der Don ihn vor einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit e rschienen war, hier an seine letzte Marterstätte bringen ließ, hatte der Gepeinigte den Tod angefleht, endlich Erbarmen mit ihm zu haben. Dieser aber schien sich gern bitten zu lassen und war taub geblieben gegenüber seinem verzweifelten Flehen.
Seit sie ihn an dieses Kreuz gebunden hatten, fühlte er, wie er zunehmend schwächer wurde. Weshalb nur konnte er nicht ei nfach aufgeben, warum kämpfte er mit aller Kraft um dieses verfluchte Leben? Die Antwort war ebenso einfach wie grausam: Sein junger, einst kräftiger Körper, sein starkes Herz, ja selbst sein Verstand, den er kaum mehr zu kontrollieren vermochte – einfach alles in ihm wehrte sich dagegen zu sterben.
Albtraumhafte Visionen huschten durch seinen wunden Geist. Seine Eltern Hand in Hand, blutüberströmt und doch lächelnd, schritten langsam auf ihn zu. Seine Mutter trug die schlafende Asma auf den Armen, deren lockiges langes Haar verkrustet von geronnenem Blut in ihrem Engelsgesicht klebte.
„Hör auf! Hör auf zu denken, hör auf zu kämpfen! So lass mich doch endlich sterben, so wie die, deren Tod ich zu verantworten habe, ich allein!“ Doch niemand erhörte ihn.
Trotz der Seile, die ihn hielten, knickten seine Beine weg, und die eisernen Nägel, die man ihm unter bitterem Hohngelächter durch die Handflächen getrieben hatte, rissen ihm das Fleisch ein. Sein ganzer Körper war eine einzige, lichterloh brennende Wunde.
Endlich, kurz bevor die Schmerzen ihn in den Wahnsinn treiben konnten, begann sich in seinem Kopf eine dunkelblaue Samtdecke auszubreiten und schemenhaft erkannte er das helle Licht, das über sie hinwegleuchtete.
Die Stimmen der beiden Folterknechte zu seinen Füßen, die ihn bewachen sollten, wurden stetig leiser und verschmolzen zu einem fast nicht mehr wahrnehmbaren Murmeln. All sein Sehnen richtete sich auf das helle Schimmern und wäre es ihm noch möglich gewesen, so hätte er jetzt gelächelt. Dieses Licht – dorthin musste er gelangen, dann würde endlich alles vorbei sein!
Plötzlich drang aus der leisen Geräuschkulisse etwas heraus, das selbst seinen gequälten Geist noch zu erreichen vermochte. Der Todesschrei eines Menschen, ein wildes Gurgeln und dann noch etwas: ein lautes Knacken und Reißen, und über all dem lag ein tiefes dunkles Knurren. Er wollte aber nichts mehr hören, wollte, dass keine Schreie mehr an seine Ohren drangen und weg von allem Leid, also wandte er sich erneut dem Licht zu, das ihm jetzt heller erschien als zuvor.
Ein kühler Lufthauch strich über seinen gequälten Körper und er fühlte den Druck sanfter Hände. Seine Schmerzen wurden leichter, sein Körper löste sich von der Erde und flog dem Licht entgegen.
„Halte durch, mein Junge, halte durch! Du hast so lange gekämpft, gib jetzt nicht auf! Lebe, mein Junge, lebe!“
1.
Granada, 1496
Es war mit Sicherheit einer der atemberaubendsten Sonnenunte rgänge, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Mohammed al Hassarin lehnte sich noch ein wenig weiter über die marmorne Brüstung des geschwungenen Balkons, um auch wirklich jede Sekunde dieses herrlichen Naturschauspieles in sich aufsaugen zu können. In der Ferne
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