Kaiserhof Strasse 12
Eingangstür sah und genau obendrüber Helene am Fenster, hatte ich den Eindruck, sie könnten auch ein einziges Wesen sein, mit zwei Köpfen übereinander, die durch eine unsichtbare Stange verbunden waren.
An den Sonntagen schaute Gustav ebenfalls aus dem Fenster auf die Straße, nur mit dem Unterschied: das Fenster blieb dabei geschlossen, und er saß nicht, sondern stand hinter der Scheibe und sah hinaus, und immer war er allein. Wenn er am Fenster war, ließ Helene sich dort nicht blicken.
Gustav Lapp hatte ein Auge auf Johanna Volk, die genau gegenüber wohnte, in unserem Haus, und wie er im ersten Stock. Sie war des letzten Rothschildschen Silberdieners einzige Tochter. Es gelang Gustav, seine Schwester zu überreden, hin und wieder Johanna zum Kaffee, zu einem Spaziergang oder auch mal zu einem Ausflug einzuladen.
Eines Sonntags verabredeten sie sich zu einem größeren Spaziergang mainabwärts. Man wollte bis nach Niederrad laufen und auf Gustavs Vorschlag dort in der Gaststätte »Frauenhof« einkehren. Dort spielte zum Nachmittagskaffee eine Damenkapelle. Star der Truppe war eine spanische Geigerin. Alles war spanisch an ihr, ihre Abstammung, ihre schwarzen Zigeunerhaare, in denen eine rote Rose steckte, ihr Geigenspiel, ihr Temperament, spanisch jedes ihrer mindestens achtzig Kilo, die sie mit sich herumschleppte und in ein teerosengelbes, schwarzpaspeliertes Seidenkleid gezwängt hatte, in das normalerweise nur sechzig Kilo paßten.
Johanna bemerkte sehr bald, daß Gustavs Interesse ausschließlich der spanischen Geigerin galt. Auch diese war auf Gustav aufmerksam geworden und kam an den Tisch, um extra für die kleine Gesellschaft aus der Kaiserhofstraße ein Solo zu spielen.
Eine halbe Stunde später war die Nachmittagsmusik zu Ende. Während die Damen ihre Instrumente einpackten, entschuldigte sich Gustav für einen Augenblick und verschwand dort, wo es zu den Toiletten ging; auch die Damenkapelle zog sich zurück. Gustav kam nicht wieder, und Johanna drängte zum Aufbruch. Ohne ihn fuhren die beiden Frauen mit der Elektrischen nach Hause.
Als Gustav spät in der Nacht heimkam, machte ihm die Schwester heftige Vorwürfe. Aber diesmal ließ er das Gezeter nicht wortlos über sich ergehen. Er verbat sich jede Einmischung in seine Angelegenheiten und schrie sie an, daß man es bis zur Freßgasse hören konnte.
In diesen Minuten brach für Helene eine Welt zusammen. Ein Leben lang hatte sie alles für ihren Bruder getan, hatte sich für ihn aufgeopfert, und als Dank dafür gab er ihr jetzt einen Tritt. Sie bekam einen Weinkrampf, dem eine schlimme Herzattacke folgte, und Gustav mußte Doktor Maier in der Bockenheimer Landstraße aus dem Bett klingeln, der sie mit Spritzen und Tabletten wieder beruhigte.
Helene, die selbst vom Leben so stiefmütterlich behandelt worden war, hatte instinktiv die Gefahr erkannt, Gustav durch diese späte Leidenschaft zu verlieren, und wenn er ging, hatte das Leben für sie keinen Sinn mehr. Aber Gustav blieb fest. Die seit seiner Jugend geübte Rücksicht auf die Schwester galt nicht mehr. Jeden Abend ging er nun zu seiner Freundin, zeigte sich öffentlich mit ihr und brachte sie sogar, zum Entsetzen Helenes, mit nach Hause.
Erstaunlicherweise wurde die spanische Musikerin aus dem »Frauenhof« eine liebevolle Partnerin Gustavs. Wenn sie ihr teerosenfarbenes Kleid, sozusagen ihre Arbeitskleidung, abgelegt und die Papierrose aus dem Haar genommen hatte, wurde aus der temperamentvollen Carmen eine ganz normale und sympathische Frau. Um mit Gustav zusammenbleiben zu können, verließ sie sogar die Frauenkapelle, als diese wieder auf Tournee ging, und nahm sich in der Hochstraße, ganz in der Nähe von Gustavs Werkstatt, eine Wohnung. Sie wären auch zusammengezogen, hätten nicht beide Rücksicht auf die unglückliche Helene genommen.
Lange hielt Gustavs Glück nicht an, acht oder zehn Wochen. Dann geschah das Schreckliche - schrecklich für die, die es überlebten: Gustav erlitt eines Nachts im Bett seiner Carmen einen Herzanfall und starb in ihren Armen.
Von diesem Schicksalsschlag erholte sich Helene nicht mehr. Sie siechte dahin, kaum ein halbes Jahr später starb auch sie.
Die traurige Carmen aber packte ihre Sachen, fuhr der Frauenkapelle nach und zwängte sich wieder in ihr teerosenfarbenes Seidenkleid mit den schwarzen Spitzen.
Ein Schatten an der Hauswand
Wenn ich aus dem Fenster unserer Hinterhauswohnung hinaussah, hatte ich, etwa in acht Meter
Weitere Kostenlose Bücher