Kaiserhof Strasse 12
über den Körper. Später kamen Leute mit einem Sarg - ich weiß noch, daß sie schwarze Schildmützen und graue Kittel anhatten -, legten ihn da hinein und trugen ihn weg. Dort aber, wo der Kopf des Toten gelegen hatte, zwischen dem Hintereingang und der Treppe zum Keller der Weinhandlung, war ein roter Fleck zurückgeblieben. Jemand schüttete einen Eimer Wasser darüber, aber der Fleck blieb, wenn auch etwas verblaßt, deutlich sichtbar.
Auch in den nächsten Tagen und Wochen sah man die Stelle, wo der Körper aufgeschlagen war, sie verschwand nur allmählich. Die Kinder von Nummer 12, die sonst im Hof herumspielten und über die Drückkarren turnten, stellten sich im Kreis um den Fleck und erzählten sich Gruselgeschichten, eine schrecklicher als die andere. Von Ermordeten mit Messern im Rücken und Messern im Bauch; von Selbstmördern, deren Geist durch die Keller spukte, weil Selbstmörder keine Ruhe finden und, wenn sie keine Lust zum Spuken haben, hinter den aufgeschichteten Briketts sitzen; von Toten, die nur scheintot waren und im Sarg wieder aufwachten. Da begann ich, mich vor der Stelle zu fürchten, erst recht, als irgendwer aufbrachte, man dürfe nicht auf sie treten, sonst sterbe man in diesem oder im nächsten Jahr. Dieses Tabu beachteten wir sehr lange, Monate später noch, als keine Spur vom Blut mehr zu sehen war. Um nicht versehentlich draufzutreten, schoben wir einen Handkarren über die Stelle.
Doch die schlimmste Gruselgeschichte erfand Kurt Katscher, der Druckereibesitzerssohn aus dem Vorderhaus. Wir sollten uns einmal vorstellen, sagte er, daß der Mann, der sich zwischen den Gitterstäben hindurchzwängte, nicht fallen konnte, weil er mit dem Fuß in den Stäben hängengeblieben war. Niemand könne ihn zurückziehen, weil der Fuß verklemmt sei, und nach unten fallen könne er auch nicht. Da hänge er nun, mit dem Kopf und den Armen nach unten, zwischen Himmel und Erde und schreie gellend. Und der Schlossermeister Walther aus dem Nebenhaus werde geholt, und er bekomme von der Polizei den Auftrag, die Stäbe, in die der Fuß verklemmt sei, durchzusägen, damit der Selbstmörder fallen könne. Eigentlich war das eine alberne, unwahrscheinliche Geschichte, sie machte aber auf mich einen tiefen Eindruck. Häufig stand ich vom Spielen in der Wohnung auf und ging ans Fenster, um zu sehen, ob der Selbstmörder an den Eisenstäben hing. Ich sah ihn sogar vor mir mit dem Kopf nach unten hängen, wenn ich gar nicht hinschaute. Jahrelang sah ich ihn im Traum da oben am runden Fenster.
Später, in der Nazizeit, als wir in unserer Wohnung wie in einer Falle saßen und jeden Tag darauf warteten, von der Gestapo oder der SA abgeholt zu werden, schaute ich oft, ohne es zu wollen, in den Hof hinunter, ob nicht gerade in dem Augenblick wer käme, uns zu holen. Wenn ich dann den Kopf hob und die Hauswand hochblickte, sah ich auch am runden vergitterten Fenster einen mit dem Kopf nach unten hängen, der nicht zurück und auch nicht fallen kann. Aber das war nicht mehr der von der Polizei Gejagte, das war ich selbst. Ich nahm die Hände vor die Augen, um den Spuk zu verscheuchen; es war vergeblich, ich sah mich weiter an den Stäben hängen.
Sogar jetzt, während ich diese Erinnerung niederschreibe, sehe ich mich dort mit dem Kopf nach unten hängen.
Die närrische Modistin
Anna Leutze bewohnte in unserem Vorderhaus Hochparterre zwei große Zimmer, einstmals Büroräume, mit den Fenstern zur Straße. In ihnen herrschte eine kaum vorstellbare Unordnung. In dem einen Zimmer waren Tische und Stühle, Bett, Frisierkommode und Vertiko mit Wäsche, Hausrat und Kleidern belegt. Wenn sie mal ein Plätzchen zum Sitzen oder zum Essen brauchte, schob sie den ganzen Kram einfach zusammen. Sie verdiente ihr Geld damit, daß sie allen möglichen Tand auf Damenhüte nähte, Stoffblumen, künstliche und echte Federn, ausgestopfte und nachgemachte Vögel, Pailletten aller Größen und Farben und noch vieles andere, was sie in dem zweiten Zimmer, ihrem Arbeitsraum, in Dutzenden von Schuhkartons, die Schränke und Regale füllten, aufbewahrte. Im Auftrag einiger Frankfurter Hutgeschäfte machte sie daraus Frühlings-, Sommer- und Herbstarrangements. Überall auf dem Fußboden standen die Hutkartons herum.
Anna Leutze war eine hagere, häßliche Frau, ihr Alter war schwer zu schätzen, vielleicht war sie vierzig, vielleicht fünfzig Jahre alt. Und sie war ein wenig verrückt. Diese Verrücktheit verband sich mit einer
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