Kaiserhof Strasse 12
schrien, daß man hätte mitweinen können, und die von den SA-Leuten nur mit Gewalt in das Transportauto gezerrt werden konnten; oder von der dicken ehemaligen Opernsängerin in Nummer 17, die immer mit drei kleinen Hunden an einer dreigeteilten Leine ausging; oder von dem Stadtsekretär in Nummer 16, der seine Wohnung zu einer einzigen großen Voliere umgebaut hatte und dem die flatternden Exoten wichtiger waren als seine Frau. Sie ließ sich darum auch von ihm scheiden, nachdem sie eines Tages ein Fenster geöffnet und einigen der wertvollen Vögel die Freiheit gegeben hatte.
Sie alle und viele andere Mitbewohner prägten so unverwechselbar die Kaiserhofstraße, daß sie sich deutlich von den Parallelstraßen, der Meisengasse und der Kleinen Hochstraße, unterschied.
Leben und Tod eines Don Juan
Uns gegenüber, in Nummer 13, befand sich das Sattlergeschäft von Gustav Lapp, vorne der Laden, hinten die Werkstatt. Benzinautos und elektrische Straßenbahnen hatten das Pferd aus den Städten verdrängt, und damit war allmählich auch des Sattlermeisters Existenzgrundlage geschwunden.
Gustav Lapp war nicht einfach nur ein Sattler, er war ein Künstler seines Fachs. Selbst unter den wenigen, die der hochherrschaftlichen Frankfurter Gesellschaft Sättel nach Maß anfertigten, nahm er eine Sonderstellung ein. Aber diese Zeit war vorbei. An sie erinnerte nur noch ein ausgestopftes braunes Rennpferd, die Attraktion seines Schaufensters - ich übertreibe nicht, wenn ich sage: der ganzen Straße. Auf dem Rennpferd, das wie lebend aussah, war ein Sattelzeug, wie ich es seitdem nie mehr gesehen habe. Es war Gustav Lapps Meisterstück.
Die feurige Araberstute zog die Aufmerksamkeit so sehr auf sich, daß man kaum noch einen Blick für die anderen selbstgefertigten Ledersachen hatte, die rund um die schlanken Fesseln des Pferdes ausgelegt waren. Man konnte auch leicht die gerahmten Landschaften und Stilleben in Wasserfarben, Kreide oder Strichtechnik übersehen, die an den Seitenwänden des Schaufensters hingen und so gar keinen Bezug zu den übrigen Ausstellungsstücken hatten. Gustav Lapp malte nämlich in seiner Freizeit und hängte einige seiner Bilder unauffällig zu der Stute ins Schaufenster.
Er dachte nicht daran, das aufzugeben, was er vom Vater übernommen hatte und was sein Lebensinhalt gewesen war. Lieber stand er stundenlang unbeweglich in der Nische seiner Eingangstür, ein Standbild seiner eigenen Vergangenheit, und wenn man sich die Trennwand zwischen Nische und Schaufenster wegdachte, dann sah es aus, als flüstere das treue Rennpferd seinem Herrn etwas ins Ohr.
Im ersten Stock, unmittelbar über dem Laden, hatte er seine Wohnung. Dort lebte er mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Helene. Beide waren unverheiratet, und sie machte ihm den Haushalt. Als die Mutter sehr früh starb, Gustav war noch nicht in der Schule, hatte Helene ihn schon versorgt. Das tat sie sehr intensiv. Inzwischen war er fünfundsechzig, und sie tat es noch immer. Sie war eine liebe Frau mit einer sanften, verzeihenden Stimme, aus der, was sie auch sagen mochte, ein Vorwurf herauszuhören war. Das Verzeihen hatte sie in vielen Jahren lernen müssen, denn Gustav machte ihr Kummer, sobald er sich mit Frauen abgab. Mit ihrer sanften Stimme und mit Beharrlichkeit schaffte sie es erstaunlicherweise immer wieder, daß er seine Affären nach einer gewissen Zeit beendete und bei ihr blieb.
Obwohl Helene jeden Morgen das schöne Fell des Rennpferdes mitsamt der Mähne und dem stolz geschwungenen langen Schwanz bürstete und mit einem Wollappen das Lederzeug mit den Messingbeschlägen auf Hochglanz brachte, war ihr Arbeitstag nicht recht ausgefüllt, es gab ja niemanden, der Schmutz machen konnte. So lag sie manche Stunde des Tages im Fenster der guten Stube, in die außer ihr und gelegentlich Gustav niemand hineinkam. Das einzige, was Helene sich dort erlaubte, war, das Fenster zu benutzen. Sie hätte bestimmt das danebenliegende und ebenfalls zur Straße führende Schlafzimmerfenster zum Hinauslehnen benutzt, wenn sie nicht befürchtet hätte, daß das leicht mißdeutet werden könnte, denn in der Regel lehnten sich nur unsolide Frauenspersonen zum Schlafzimmerfenster hinaus.
Direkt über der Eingangstür zur Sattlerei lag Helene mit verschränkten Armen auf einem eigens zu diesem Zweck bereitliegenden Zierkissen und schaute auf die Straße hinunter. Wenn ich aus unserer Einfahrt herauskam und Gustav Lapp in seiner etwas erhöhten
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