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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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Warum, ist ihr nie recht klargeworden. Er blieb zwei Jahre fort. Wo er in dieser Zeit gewesen war und was er getan hatte, darüber sagte er nie etwas Genaues und ließ mir damit Raum für alle möglichen Spekulationen, die vom Waffenaufkäufer für die russischen Revolutionäre bis zum Bombenleger, vom Geheimkurier bis zum Spion reichten. Es kann aber auch alles viel harmloser gewesen sein.
    Nur von mehreren Aufenthalten in der Schweiz berichtete er und war sehr stolz darauf, in Genf mit Lenin und dessen Frau, der Krupskaja, zusammengetroffen zu sein. Auch andere russische Revolutionäre sah er in Genf, doch was er mit ihnen zu tun hatte, habe ich genau so wenig herausbekommen wie den Grund für sein mysteriöses Verschwinden.
    1909 kam mein Vater mit einem falschen russischen Paß aus der Schweiz nach Berlin zurück. Er hieß nun Jakob Senger, und seine Frau war eine geborene Fuhrmann. Mit dem neuen Paß und dem neuen Namen trat eine Wende in seinem Leben ein: Er setzte einen Schlußstrich unter seine revolutionäre Vergangenheit, wurde wieder ein legaler, polizeilich gemeldeter Bürger, mietete eine Wohnung in der Schönhauser Allee, und nahm Arbeit als Dreher in einer Aufzugsfirma an. Er war inzwischen neununddreißig Jahre alt.
    1911 zogen meine Eltern nach Offenbach und von dort einige Monate später nach Frankfurt. Hier fand Papa Arbeit als Revolverdreher in den Adlerwerken. Trotzdem lebte er immer noch in der Angst, man könnte ihn eines Tages wegen seiner illegalen Vergangenheit belangen; er befürchtete, der falsche Paß würde bei einer polizeilichen Überprüfung entdeckt und er und Mama würden ausgewiesen. Nicht zuletzt machte er sich Sorgen, seine Aussprache könnte ihm einmal zum Verhängnis werden, denn er hat nie richtig deutsch gesprochen, immer nur gejidelt. Auch noch später, während der ganzen Hitlerzeit.
     

Die Tarnung
    Mit der Übersiedlung nach Frankfurt begann die von Mama inszenierte Tarnung, das verzweifelte Bemühen, ihre Vergangenheit auszulöschen oder doch wenigstens die Spuren so zu verwischen, daß niemand zurückfand. Der Ortswechsel nach Frankfurt war der erste Schritt. Mama dachte sich einen Plan voller Winkelzüge aus: Die Abmeldung in Offenbach lautete nach Zürich. Dort beschaffte sich Papa eine Aufenthaltsgenehmigung, meldete sich ordnungsgemäß an, blieb vierzehn Tage, und meldete sich wieder ab. Diese Abmeldebescheinigung legte er dann der Frankfurter Polizeibehörde vor, so daß in seiner neuen Anmeldung der Vermerk erschien: »zugezogen aus Zürich«.
    Je ruhiger und abgeklärter Papa wurde, um so aktiver war Mama. Papa schien müde zu sein, die Spitzen seines einst nach oben gezwirbelten Schnurrbarts hingen jetzt über die Mundwinkel herunter, sein Gang war schlurfend. Mama dagegen verließ die Rolle der traditionellen jüdischen Unterordnung der Frau, nahm die Zügel der Familie fest in die Hand und bestimmte fortan allein deren Geschick. Dieser Rollenwechsel vollzog sich lautlos. Papa ließ sie gewähren; es hatte den Anschein, als wollte er es gar nicht anders. Auch die Familienplanung nahm Mama in die Hand. Zwanzig Jahre nach der Heirat, 1917, kam meine Schwester Paula zur Welt, 1918 ich und 1923 mein Bruder Alex.
    Bei all ihren Vorsichtsmaßnahmen bedachte Mama jedoch nicht, daß in einer so liberalen und weltoffenen Stadt wie Frankfurt, in der Juden und Christen seit Jahrhunderten nebeneinanderlebten, es einmal etwas Lebensgefährliches sein könnte, Jude zu sein. Darum hatte sie auch keine Bedenken, wenn in der Einwohnerkartei bei unserem Namen »Religion: mosaisch« stand.
    Trotz Papas revolutionärer Vergangenheit fühlten sich meine Eltern stets dem Judentum verbunden, wenn sie auch nur formell der Israelitischen Gemeinde angehörten, kaum Kontakt mit ihr hatten und vom jüdischen Leben ihrer Elternhäuser nicht viel mehr übriggeblieben war als einige wehmütige Erinnerungen: eine jüdische Mamme; Geborgenheit im großen Familienkreis; ein frommer Vater, der über einem Glas Wein vor dem Sabbatessen das Kiddusch sang, den Segensspruch, und betend das Brot brach; die Erinnerung an Pürinr (Freudenfest zur Errettung der persischen Juden vor dem Tyrannen Haman durch Esther.), das lärmende Fest der Kinder; die nach mosaischem Gesetz unter einer Chupe (: Trau-Baldachin) vollzogene Trauung.
    Oft ging Papa mit mir in die reformierte Synagoge in der Freiherr-vom-Stein-Straße. Mama setzte mir schon zu Hause eine Baskenmütze auf, die sie ausschließlich für meinen

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