Kaiserhof Strasse 12
religiösen Bräuche nahm, machten aber in Wirklichkeit nur die Bindung an die jüdische Religion deutlich.
Wenn Mama an der Nähmaschine saß und eine Bluse oder ein Kleid für fremde Leute nähte, kam es vor, daß sie mich zu sich rief und mir etwas aus der Geschichte des jüdischen Volkes erzählte, zum Beispiel über die Befreiung der persischen Juden durch Esther und Mordechai, oder vom Kampf der Zeloten gegen die Römer im Jüdischen Krieg, oder auch nur Einzelheiten aus ihrem Elternhaus. Sie war es auch, nicht Papa, die mir eines Tages berichtete, daß die Rabisanowitschs Cohenim (: »Priester«, der Name von jüdischen Familien, die ihren Stammbaum auf das alttestamentarische Priestergeschlecht der Ahronssöhne zurückführen.) waren und in der väterlichen Linie viele in Südrußland bekannte Rabbiner hervorgebracht hätten. Auch mein Großvater, erzählte sie, habe das Rabbinerseminar besucht. Den Grund aber, warum er kein Rabbiner, sondern nur ein Getreidehändler geworden war, sagte sie mir nicht.
Einigen Andeutungen Papas habe ich entnommen, daß mein Großvater, den ich leider nie gekannt habe, offenbar die angenehmen Seiten des Lebens sehr zu schätzen wußte. Er war ein gutaussehender Mann - ich konnte mich anhand einer erhalten gebliebenen Daguerreotypie davon überzeugen -, der gern den Rubel rollen ließ und die Frauen und das Nichtstun mehr liebte als das Studium. Diese Lebensführung des Rabbinatsschülers Rabisanowitsch vertrug sich nicht mit den Gesetzen rabbinischer Tugend, und er mußte darauf verzichten, einmal das geistliche Oberhaupt einer jüdischen Gemeinde zu werden.
Mama sagte, daß es eine Ehre sei, zu einer Cohen-Familie zu gehören. Das zu wissen tat mir wohl und hob mich ein wenig aus dem Nichts unserer Hinterhofexistenz heraus. Leider machte sich Papa gar nichts aus dieser Ehre. Er meinte mit einem Augenzwinkern, mittlerweile gebe es bei den Juden so viele Cohenim wie Jesus-Reliquien bei den Christen.
Die Bschneidung
Auch Papa bemühte sich, uns Kinder in der jüdischen Tradition zu erziehen. Er nahm mich nicht nur mit in die Synagoge und sprach mit mir über jüdische Bräuche und Gebote, sondern erklärte mir auch die hebräischen Schriftzeichen, lehrte mich das Chanukkalied (: »Weihe«. Das Fest, Anfang Dezember, zur Erinnerung an die Reinigung des jerusalemischen Tempels vom hellenistischen Götterkult (165 v. Chr.), heute in erster Linie ein Fest der Kinder, bei dem diese kleine Geschenke bekommen.) und ging eines Tages mit mir auf den jüdischen Friedhof. Das war für mich wichtig, weil ich keine Verwandten in Deutschland hatte und darum auch nie einen Trauerfall in der Familie. Also wußte ich auch nicht, wie die Juden um ihre Toten trauern und wie sie ihrer gedenken. Ich habe nie in meinem Leben Großvater oder Großmutter, Onkel oder Tante, Cousin oder Cousine gekannt; sie alle waren in Rußland geblieben oder in andere Länder ausgewandert. Das mag ein wesentliches Hemmnis in meiner und meiner Geschwister Entwicklung gewesen sein, denn erst die traditionelle jüdische Großfamilie mit ihrem lauten Durcheinander vom Morgen bis zum Abend, der ewigen Aufregung vor Schabbat, der übertriebenen Fürsorge um die Kinder und der Ehrfurcht vor den Alten gibt dem einzelnen Sicherheit und Selbstbewußtsein.
Die einzige Verwandte, die ich je kennengelernt habe, war eine Nichte von Mama, Taja Baumstein, eine außergewöhnlich schöne und temperamentvolle Frau, nach der sich die Männer auf der Straße umdrehten. Sie hatte in den zwanziger Jahren im Hoch'schen Konservatorium in Frankfurt mehrere Semester Musik studiert und in dieser Zeit bei uns gewohnt. Danach hatte sie geheiratet und war mit ihrem Mann nach Toulouse gezogen. 1937 sah ich sie dort wieder, als ich mit ihrer Hilfe ein Einreisevisum nach Frankreich bekam - und dann Anfang 1946 in Höchenschwand im Schwarzwald, im französisch besetzten Teil Deutschlands, wo sie eine Kur machte. In der Zwischenzeit hatte sich Entsetzliches ereignet. Ihr Mann war im KZ Buchenwald durch Ertränken ermordet worden, wie ihr später Mitgefangene berichteten, und sie selbst war drei Jahre im KZ Ravensbrück inhaftiert, wo SS-Ärzte an ihren Beinen medizinische Experimente vorgenommen hatten. Taja konnte sich nur mühsam an einem Stock bewegen, und als sie die Hosen hochnahm, sah ich zwei völlig vernarbte, noch immer an mehreren Stellen eiternde Beine, aus denen ganze Wadenpartien herausgeschnitten waren. Einige Monate später nahm
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