Kaiserhof Strasse 12
sie sich das Leben.
Ich vergesse nie, wie Papa mit mir durch die Gräberreihen des alten jüdischen Friedhofs in der Rat-Beil-Straße ging, mir die verschiedenen Symbole auf den Grabsteinen zeigte und erklärte, warum auf vielen Gräbern kleine Steinchen lagen. Dann setzten wir uns auf einen Mauervorsprung, und Papa erzählte mir, wie die jüdische Überlieferung verlange - ganz im Gegensatz zu den christlichen Religionen -, daß die Beerdigung in einem einfachen Holzsarg so schnell und schlicht wie möglich vonstatten zu gehen habe und die Hinterbliebenen sieben Tage »Schiwe sitzen« müßten, daß heißt, zum Zeichen der Trauer, zu Hause auf niedrigen Schemeln ohne Schuhe sitzend, die Beileidsbesuche empfangen. Dann aber müßten sich die Trauernden, so fuhr er fort, wieder dem Diesseits, dem Leben zuwenden, obwohl sich der Schiwe noch dreißig Trauertage anschlossen; nur beim Tod von Vater und Mutter währe die Trauerzeit ein ganzes Jahr. Die jüdische Religion fordere, den Toten ihre Ruhe zu lassen, damit die Wunden vernarbten, die der Tod geschlagen habe. Das sei auch der Grund, weshalb die Juden so selten auf den Friedhof gingen, obwohl auch sie an ein Weiterleben nach dem Tode glaubten, an eine zukünftige Welt, in der die Gerechten ihren reichen Lohn und die Sünder ihre verdiente Strafe erhielten. Ob Papa an ein Leben nach dem Tod glaubte, weiß ich nicht, aber nach all dem, was er mir erzählte, könnte es durchaus so gewesen sein, ein solches Verhalten würde zu ihm gepaßt haben.
Als mein Bruder Alex geboren wurde, gab es acht Tage später ein großes Fest bei uns. Papa blieb von der Arbeit zu Hause, räumte in aller Frühe schon die Wohnung auf und machte alles blitzblank. Obwohl Mama aus dem Wochenbett aufgestanden war und wieder wie eh und je im Haushalt herumhantierte, übernahm Papa an diesem Morgen die ganze Arbeit allein. Mama mußte auf dem Sofa sitzenbleiben und durfte sich bestenfalls um das Neugeborene kümmern, ihm die Brust geben, es sauber machen. Dem Kind wurde das schönste Wolljäckchen angezogen. Auch meine Schwester Paula und ich mußten unsere besten Sachen anziehen, die Schuhe putzen, die Hände waschen, und Papa und Mama machten sich ebenfalls schön.
Dann war der feierliche Augenblick da: der Mohel, der Beschneider, kam. Er kam pünktlich und gemessenen Schrittes, sich seiner Wichtigkeit bewußt, angetan mit einem schwarzen Kaftan, auf dem Kopf einen steifen schwarzen Hut. Er brachte einen jungen Assistenten mit, der eine kleine abgegriffene Ledertasche trug; sie enthielt die zur Briss Mile, der Beschneidung, notwendigen Utensilien. Im hinteren großen Zimmer, dem Elternschlafzimmer, legte Mama den kleinen Alex, der schon jetzt so jämmerlich schrie, als ahnte er, was ihm bevorstand, auf das dem Fenster nächststehende Bett, damit der Mohel für seine rituelle Handlung das günstigste Licht habe. Sie legte dem Kind noch eine gesteppte Seidendecke unter und zog ihm dann das Strampelhöschen aus. Der bedachtsame und praktische Mohel schob erst mal ein kleines Leinentuch zwischen Kinderpopo und Seidendecke und sprach dann ein Gebet. Damit sie den Mohel nicht störten, mußten die Zuschauer der Beschneidung - einige Freunde der Familie, meine Schwester, und ich mit Baskenmütze - auf der andern Seite der Ehebetten stehen. Nur Mama und Papa blieben in der Nähe. Papa hatte seinen schwarzen Filzhut aufgesetzt. Der Assistent reichte die Instrumente, und der Mohel - er behielt sein Jackett an, schlug aber die Ärmel um - begann seine Arbeit.
Der arme Alex schrie mörderisch, als ihm das kleine Stückchen Vorhaut weggeschnitten wurde. Ich war noch sehr klein und konnte deshalb von der Operation selbst nicht viel sehen. Es ging alles sehr schnell, Alex bekam zum Schluß einen Verband drum, dann sprach der Mohel noch ein längeres Gebet. Anschließend segneten Mama und Papa den kleinen Alex, indem sie ihm die Hand auf den Kopf legten.
Das Ganze war sehr aufregend für mich, und obwohl über fünfzig Jahre vergangen sind, erinnere ich mich noch sehr genau an viele Einzelheiten, so an das von einer Akne oder von Windpocken vernarbte Gesicht des Assistenten, an das schwarze Etui mit dem Skalpell, an eine blecherne Puderdose, die wie eine Pagode geformt war und die der Mohel auf der Marmorplatte der Frisierkommode abgestellt hatte, und daran, wie Mama dem Beschneider aus der blaugeblümten Steingutkanne zur Reinigung Wasser über die Hände goß.
Mama steckte Alex zur Beruhigung einen
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