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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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Synagogenbesuch bereithielt. Papa nahm seinen schwarzen Filzhut, der ebenfalls nur zu diesem frommen Zweck bestimmt war und die übrige Zeit in einer Stoffhülle auf dem oberen Brett im Kleiderschrank lag. Wir gingen meistens an den jüdischen Feiertagen, und selbstverständlich immer an Jom Kippur. Der Besuch der Synagoge an diesem höchsten Feiertag der Juden, an dem man alle Verfehlungen des vergangenen Jahres bereut, einen ganzen Tag lang betet und dann wieder makellos dasteht vor Gott, war etwas ganz Besonderes für mich. Papa nahm mich unterwegs bei der Hand, was er sonst nur selten tat, und hielt mich die ganze Zeit fest. Er erklärte mir die Bedeutung von Rosch Ha-Schana, dem Neujahrsfest, und Jom Kippur, dem Versöhnungstag, und den dazwischenliegenden zehn Bußtagen, und erzählte mir, wie sie diese hohen Feiertage zu Hause in Rußland begangen hätten. Dann sprach er von der Merkwürdigkeit des Versöhnungstages und war gar nicht damit einverstanden, daß man an einem einzigen Tag ungeschehen mache, was man an den andern dreihundertvierundsechzig Tagen des Jahres gesündigt habe. Er sagte, die Talmudgelehrten würden zwar eine solche Auslegung des Sühnungstages ablehnen und davon reden, man könne den göttlichen Richter nicht betrügen, aber sie würden dennoch akzeptieren, wie man es in der ganzen jüdischen Welt praktiziere, daß ein Zerknirschungstag zur Tilgung eines ganzen Sündenjahres genüge. Das sei nicht gut, sagte er, und ich gab Papa recht.
    Dazu muß man wissen, daß an Jom Kippur alle Juden, ob sie fromm sind oder nicht, in die Synagoge gehen, um die Sünden der Vergangenheit zu bereuen. Die Bußfertigen werden dafür reichlich belohnt, indem sie aus dem großen Buch Gottes gelöscht werden, in welchem alle Verfehlungen eingetragen sind, die jeder einzelne im Laufe des letzten Jahres begangen hat und für die er sonst nach seinem Tode von Gott zur Rechenschaft gezogen würde. Nimmt ein Jude diese Gelegenheit nicht wahr, dann sind seine Sünden, wenn die Sonne versinkt und sich das große Buch wieder schließt, für ein weiteres Jahr festgeschrieben.
    Kein Wunder, meinte Papa, daß an diesem Tag die Synagogen brechend voll sind. Wer schon möchte sich diese einmalige Gelegenheit entgehen lassen, die miesen Eintragungen für ein ganzes Jahr zu löschen, indem er einige Stunden betet, bereut, Zerknirschung zeigt und dann wieder ein guter Mensch ist. Er bezweifelte, daß Gott so ungerecht sein sollte; aber da Papa offenbar nicht ganz sicher war, ob Gott nicht doch Buch über alle Sünden führt und an Jom Kippur tatsächlich den Bußfertigen Absolution gewährt, ging er jedes Jahr wieder mit mir in die Synagoge, manchmal schon am Vorabend, dem Beginn des hohen Feiertags, wenn zur Einleitung das Kol Nidre (»Alle Gelübde«, die Anfangsworte des Gebets, das am Vorabend des Versöhnungstags (Jom Kippur) den Gottesdienst in der Synagoge einleitet) gesungen wurde.
    Dann stand ich eingekeilt in der betenden Menge irgendwo im hinteren Teil des Gotteshauses, fast an der Wand - Papa und ich, wir standen immer - und ich sah nichts weiter als die schwarzen Jacken der vor mir Stehenden; Papa war hinter mir und hatte die Hände auf meine Schultern gelegt. Ich hörte den monotonen Singsang der Betenden, gelegentlich die Einzelstimme des Vorbeters, bemerkte, wie sich die rhythmischen Bewegungen der Beter in der Mitte, die ich nicht sehen konnte, manchmal bis in die letzten Reihen der stehenden Beter fortsetzten. Obwohl ich weder etwas sehen konnte noch etwas von den Gebeten verstand und obwohl wir immerhin einige Stunden in der Synagoge verbrachten, wurde es mir keine Minute langweilig, das gemeinsame Beten zog auch mich in seinen Bann.
    Und weil Jom Kippur nicht nur der Tag der Versöhnung mit Gott, sondern auch mit allen Menschen ist, gab es da ein endloses Händeschütteln schon auf dem Weg zur Synagoge und erst recht später auf dem Nachhauseweg, jeder wünschte jedem das Beste und Schalom und Vergessen-wir-das. Und wir Kinder machten uns einen Spaß daraus und spielten auch Versöhnung.
    Ich empfand, daß meine Eltern dieses Ritual nicht nur einfach mitmachten, weil sie sich dem in ihrem jüdischen Freundeskreis nicht entziehen konnten - es war vielmehr ihre mosaische Tradition, in die sie immer wieder zurückkehrten. Sie konnten gar nicht anders. Die Witze und Majsses (:Geschichten), die Papa vorher und nachher über den Versöhnungstag erzählte, sollten zwar zeigen, wie wenig ernst er diese

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