Kaiserhof Strasse 12
markanten Strumpfnähte. Das waren aufregende Stunden. Wohlweislich behielt ich meine Entdeckungen für mich.
Arbeiter und andere Leute aus dem einfachen Volk wohnten selbstverständlich auch in unserer Straße; schließlich gab es genug Hinterhäuser - hinter jedem Vorderhaus eines. Dort waren auch die Mieten billiger. Man hörte schon mal Beschwerden darüber, daß nie die Sonne in die Hinterhäuser komme, daß es dort immer stinke und daß dafür die Mieten ganz schön hoch seien, wie zum Beispiel in Nummer 10, unserem Nachbarhaus. Dieses Haus, dessen Hinterhof von dem unsrigen nur durch eine gut zwei Meter hohe Mauer mit einer eingelassenen Teppichstange, die das Darüberklettern sehr erleichterte, abgeteilt war, gehörte einer Brauereibesitzerstochter, die im zweiten Stock des Vorderhauses wohnte. Ihr Mann, der eingeheiratete Schlossermeister August Walther, hatte im Hof seine Werkstatt. Sie lebten in Gütertrennung, und die Bierbrauerstochter versäumte im Gespräch mit den Nachbarn keine Gelegenheit, um zu betonen, daß das ihr Haus sei; ihm gehörte nichts weiter als das schmiedeeiserne Schild draußen an der Hauswand mit der Aufschrift »Kunst- und Bauschlosserei«, seinem Namen und zwei gekreuzten goldenen Schlüsseln, die man von der Freßgasse aus sehen konnte. Frau Walther - die uns wegjagte, wann immer wir uns ihrem Haus näherten, die Wutanfälle bekam, wenn sie Kritzeleien an der Hauswand oder im Treppenhaus entdeckte, und arme Leute nicht ausstehen konnte, weil die ja immer nur selbst an ihrer Armut schuld seien - reagierte auf Beschwerden über zu hohe Mieten mit dem schnippischen Hinweis, wem es nicht passe, der könne ja ausziehen, ihretwegen in die Meisengasse, sie halte niemanden. Das rief sie vom Vorderhaus über den Hof laut den beschwerdeführenden Hinterhausmietern zu, so daß es die ganze Nachbarschaft mitbekam und die Angesprochenen beschämt ihre Fenster schlossen.
Unsere Straße steckte voller Merkwürdigkeiten, und es wundert mich, daß es damals und auch später keinem auffiel. Ich meine, die Kaiserhofstraße, von der ohnehin niemand recht weiß, warum sie so heißt, hätte es verdient, daß ihre Geschichte in die städtischen Annalen einginge. Allein schon das, was in meiner Erinnerung zurückgeblieben ist - und es sind doch nur kärgliche Reste von Erinnerung -, macht sie bemerkenswert.
In Nummer 6 zum Beispiel wohnte ein Kunstmaler mit dem klangvollen Namen Lino Salini. Ich habe seitdem keinen Menschen mehr kennengelernt, bei dem Name und Habitus so zueinander paßten. Das war ein Auftritt, wenn der stattliche Mann mit dem runden schwarzen Künstlerhut, dessen Krempe breit wie ein Wagenrad war und den er sommers wie winters auf dem Kopf hatte, einen weiten Pelerinenmantel umgehängt, die Kaiserhofstraße hinunterging, nein, -schritt, die Zeichenmappe unter den linken Arm geklemmt, den rechten Arm in einem weiten Bogen pendelnd und immer wieder den von den Schultern gleitenden Wollschal mit lässigem Schwung nach hinten werfend!
Der im gleichen Haus wohnende Transvestit Didi gab sich da unauffälliger. Tagsüber war er in einem vornehmen Damensalon in der Schillerstraße ein begehrter Friseur; abends, wenn er geschminkt und mit hellblonder Perücke entweder in einem eleganten knöchellangen Abendkleid oder einem enganliegenden Damenkostüm mit Pelzstola, Seidenstrümpfen und hochhackigen Pumps ausging, war es ihm am liebsten, wenn er unerkannt blieb. Aber die Leute in der Kaiserhofstraße wußten es natürlich und hänselten ihn. Er nahm das schweigend und lächelnd hin. Als männlichen Didi kannte auch ich ihn gut und war von der Verwandlung am Abend tief beeindruckt, da sich mit den Kleidern auch sein Gang und sein ganzes Gehabe veränderte, sogar seine Stimme. Hätten mich die größeren Buben nicht auf ihn aufmerksam gemacht, allein würde ich ihn bestimmt nicht erkannt haben.
Als Didi schon längst nicht mehr wagte, sich in Frauenkleidern sehen zu lassen, holten ihn eines Tages SA-Leute von seiner Arbeitsstelle ab und schafften ihn in ein Konzentrationslager. Dort ging Didi, der außerhalb seines Frisiersalons niemandem ein Haar krümmen konnte, elend zugrunde.
Einige Häuser weiter, dort, wo sich Mohrhards Weinstuben befanden, war ein sehr originelles Paar zu Hause, die Eheleute Kummernuß. Zwei kleine Emailschilder neben der Haustür, akkurat untereinander, zeigten an, daß sich das Ehepaar in einer geradezu idealen beruflichen Konstellation befand:
Weitere Kostenlose Bücher