Kaisertag (German Edition)
Nahkampfspezialisten der Sonderbrigade den Eingang bewachten.
Was sollte er tun? Er stand mit schussbereit angelegtem Gewehr am Fenster, und der Luftkreuzer befand sich schon fast über dem Hanseplatz. Die letzten Takte der Kaiserhymne tönten herauf. Der entscheidende Moment war gekommen. Er hatte einen Befehl auszuführen und durfte sich jetzt durch nichts in der Welt ablenken lassen. Durch absolut nichts.
Er ignorierte die immer lauter hallenden Geräusche im Treppenschacht und spähte durch das Zielfernrohr. Mit ruhiger Hand richtete er die Waffe aus, bis sich sein Ziel genau im Fadenkreuz befand. So nah war der Hinterkopf des Kaisers, dass es schien, als hätte man nur die Hand auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren. Die haarfeinen Linien des Fadenkreuzes überschnitten sich exakt über der Wölbung der glänzend schwarzen Pickelhaube. Das dünne lackierte Stahlblech würde kein ernsthaftes Hindernis für die Kugel sein.
Der Scharfschütze blendete alles um sich herum aus. Sein Universum bestand jetzt nur noch aus ihm selber, dem Gewehr in seinen Händen und dem Schädel, den er treffen wollte. Nichts anderes existierte für ihn mehr.
Die Muskeln des Zeigefingers am Abzug spannten sich.
Es war so weit. Jetzt –
Unversehens drehte sich der Kaiser herum und sah ihn an. Er sah zu ihm hinauf, ihm direkt in die Augen.
Verdammt, er weiß es! , durchfuhr es den Schützen. Für einen unfassbar kurzen Augenblick bewegte sich sein Finger am Abzug nicht weiter.
… Heil, Kaiser, Dir!
Aus dem Nichts bohrte sich von hinten etwas tief in seinen Arm. Das aufgeschlitzte Fleisch glühte, Schmerz breitete sich wie flüssiges Feuer mit rasender Geschwindigkeit aus, als wollte er bis in die letzte Zelle des Körpers strömen. Der Schütze konnte das Gewehr nicht mehr halten, es rutschte ihm aus den Händen. Er fuhr herum und sah eine Faust auf sich zuschnellen. Ein harter Schlag traf sein Kinn. Er verlor das Bewusstsein und sackte zu Boden, wo er neben der Lee-Enfield zwischen dem Ziegelschutt liegenblieb.
Alexandra ließ den Degen sinken; der dünne Blutfilm auf der Klinge zog sich zusammen und bildete dunkelrot glitzernde Perlen auf dem glatten Stahl. »Guter Schlag«, keuchte sie erschöpft.
»Nur nicht sehr ladylike, fürchte ich«, erwiderte Yvonne Conway, während sie ihre schmerzenden Finger ausschüttelte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Aber wen kümmert das. Der Attentäter ist keine Gefahr mehr. Jetzt müssen wir ihn nur noch fesseln, und wir haben es geschafft!«
Erleichtert wollte die Polizeipräsidentin zustimmen; doch dann fiel ihr Blick aus dem Fenster, und mit einem ernüchterten Tonfall, der nichts Gutes verhieß, sagte sie leise: »Gar nichts haben wir geschafft.«
Die Kronprinzessin Sophie Viktoria schwebte genau über dem Hanseplatz.
»Koordinaten erreicht«, rief der Soldat am Bombenzielgerät. »Wir befinden uns jetzt über der Abwurfstelle!«
Der Oberleutnant hatte diese Meldung schon erwartet. Seine Hand lag bereits auf dem Knauf des Hebels, mit dem der Mechanismus im Bombenraum in Gang gesetzt wurde. Aber ihm war unbehaglich zumute. Das Luftschiff flog über hundert Meter niedriger als vorgesehen. Auf welche Fallhöhe war der Zünder der Bombe überhaupt justiert? Er wusste es nicht. Nur Major Sonnenbühl kannte die Einstellungen, und der war nicht in der Führergondel. Seine letzten Anweisungen waren jedoch eindeutig gewesen: Die Bombe musste unter allen Umständen zum vorauskalkulierten Zeitpunkt abgeworfen werden. Und das war jetzt.
Also drückte der Oberleutnant den Hebel bis zum Anschlag herunter.
Die Musiker der Regimentskapelle wendeten flink ihre Notenblätter, dann hob ihr Kapellmeister auch schon wieder den Taktstock, und mit einem scheppernden Beckenschlag und einem Trompetenstoß begann das nächste Stück ihres speziell für diesen Tag zusammengestellten Repertoires. Unter den Zuschauern auf dem Hanseplatz gab es kaum einen, der nicht gleich bei den ersten Tönen den Luftschiffer-Marsch erkannte. Und da auch fast jeder wusste, dass nun die Parade der beiden Luftkreuzer-Geschwader folgen sollte, hoben sie wie auf Befehl nahezu gleichzeitig die Köpfe und schauten erwartungsvoll in den Himmel.
Sie wurden nicht enttäuscht, denn ihnen bot sich ein imposanter Anblick. Hoch über sich sahen sie die rautenförmige Formation der Luftkreuzer, angeführt vom Flaggschiff Friedrich der Große . Die in der Sonne silbern gleißenden Zeppeline schwebten wie ein
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