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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Mienen einher, die Mundwinkel nach unten gezogen, als vergingen sie in der unerwarteten Hitze. Doch beim Anblick der Arbeiter kam plötzlich Leben in ihre Gesichter - sie redeten und gestikulierten wild durcheinander.
    Ein zögernder Kaufmann, der ebenso wie sein Gefährte einen gelben Filzflecken an der Brust trug, um andere vor »dem Auswurf des Judentums« zu warnen, wie der berühmte Inquisitor Bernard Gui es nannte, raunte: »Eine Verbrennung also ... ist es denn schon beschlossen?«
    Eine schwarz verschleierte Witwe aus niedrigem Adelsstand kniff verächtlich die Augen zusammen und sagte zu ihrer Magd, die einen Korb trug: »Sie wollen sie zu Tode peinigen, dabei ist sie schon jetzt eine Heilige. Nur, weil sie aus Toulouse stammt, weißt du ...«
    Zwei Mönche auf einem Esel flüsterten im Chor:
    »Die wären wir los, soll sie doch der Teufel holen!«
    »Wir könnten etwas zu Essen mitbringen und auch die Kinder«, war eine leicht schielende Bauernmatrone mit weißem Turban zu vernehmen, die ihren mürrisch drein-blickenden Mann anlächelte und dabei drei abgebrochene Schneidezähne enthüllte.
    Auf der engen Straße ließ es sich kaum vermeiden, jede Bemerkung mitzubekommen und den Atem der Sprechenden zu spüren. Schwitzende Männer, Frauen und Tiere drängten an ihm vorbei, und Bruder Michel legte unwillkürlich eine Hand auf das Tintenhorn aus Elfenbein an seiner Hüfte, nicht so sehr aus Furcht, es könnte Taschendieben zum Opfer fallen, als vielmehr in der Annahme, dass es im Gewühl abreißen könnte. Um seine Taille hing ein großes schwarzes Bündel, in dem sich eine Schreibtafel, ein Federkiel und eine Pergamentrolle befanden. Aus diesem Grund hielt der Schreiber eine halbe Armlänge Abstand zu seinem Meister, dem dominikanischen Priester und Inquisitor Charles Donjon, der sich selbstsicher einen Weg durch das Gewühl bahnte.
    Michel zwang sich, den Blick von den Arbeitern an den Pfählen abzuwenden, denn gerade dieses Gerichtsverfahren erregte eine Wut in ihm, die das normale Maß weit überschritt. Ich dachte, das Wichtigste sei, sie zu retten, nicht, sie zu töten!, hatte er seinen Adoptivvater - das Oberhaupt der französischen Inquisition, Kardinal Chretien - einmal angeschrien, als es um einen ähnlichen Fall ging und er sich darüber ereiferte, dass die Zivilbehörden sofort davon ausgingen, es gebe eine Exekution. Obwohl er seinem Vater treu ergeben war und die Lehren der Kirche pflichtbewusst aufrechterhielt, sah er seine Mission darin, Seelen zu bekehren und Leben zu retten. Daher zog sich ihm beim Anblick der Menge, die es kaum erwarten konnte, die Flammen lodern zu sehen, das Herz schmerzhaft zusammen.
    Somit betrachtete Michel jetzt jeden fernen Hammerschlag als eine Herausforderung.
    Gütiger Gott, möge dies ein Pfahl sein, der nicht seiner Bestimmung zugeführt wird, betete er im Stillen, und da, noch einer...
    Allem Anschein nach hatte der weltliche Arm des Gesetzes bereits entschieden, dass zahlreiche Hinrichtungen stattfinden sollten: mindestens sieben, wenn er von der Anzahl der Pfähle ausging, welche die Arbeiter aufstellten. Zum zweiten Mal sollte Michel einer Verbrennung auf dem Scheiterhaufen beiwohnen, dabei verfolgte die erste ihn noch immer in seinen Albträumen. Gleichzeitig betete er:
    Herr, verleih mir Demut; lass mich mit
    Dankbarkeit die Mission annehmen, die mein Vater mir aufgetragen hat... Gib mir Deine Weisheit, Deine Worte, um die verlorenen Seelen zu retten...
    Die Milchmagd hinter ihm versetzte ihm einen kräftigen, sorgsam ausbalancierten Stoß mit dem Knie, ohne einen Tropfen aus den Eimern zu verschütten, die von ihren Schultern hingen. Das Gedränge war zu dicht, als dass er sich hätte umdrehen können, um sie in Augenschein zu nehmen, doch er hörte das leichte Schwappen der Flüssigkeit und roch, dass die Milch kurz davor war, in der unerwarteten Hitze sauer zu werden. Da die Menschen vor ihm - völlig fasziniert bei dem Gedanken an die bevorstehenden Hinrichtungen -sich nicht vom Fleck rührten, wurde er von hinten gegen Vater Charles gedrückt; das Knirschen des kostbaren Pergaments ließ Michel zusammenfahren.
    Obwohl die Milchmagd immer weiter drängelte, blieb Vater Charles fest auf den Beinen, auch jetzt noch strahlte er Ruhe und Würde aus. Er war nicht sehr groß, einen Kopf kleiner als sein Schützling, doch von aufrechter und kräftiger Statur. Sein Oberkörper zeichnete sich breit und muskulös unter der Kutte ab, die in schlichtem Schwarz

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