Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
gehalten war, was höchst außergewöhnlich war in einer Zeit, in der Kleriker, die wie er dem Adel entstammten, sich in farbige Seide, Satin und Felle kleideten.
Bei ihrer Ankunft waren er und Michel eingeladen worden, im luxuriösen Palast des Bischofs, direkt neben der Basilika innerhalb der alten Stadtmauern zu wohnen. Vater Charles hatte einen diplomatischen Weg gefunden, die Einladung anzunehmen und zugleich abzulehnen: Er und Michel würden ganz in der Nähe absteigen, im Dominikanerkloster, das sich an die Basilika Saint-Nazaire anschloss. Sie hatten den Tag lange vor Sonnenaufgang mit der Laudes begonnen, und das, obwohl sie die Tore von Carcassonne am Abend zuvor nicht vor Einbruch der Dunkelheit durchschritten und noch an der Frühmette um Mitternacht mit den Klosterbrüdern teilgenommen hatten. Zur Prim hatten sie einen Imbiss mit den Brüdern eingenommen (Graupen und Kohlsuppe); und als die Sonne schließlich aufgegangen war, hatten sie dem Bischof die Ehre erwiesen, der darauf bestand, sie noch einmal zu Tisch zu bitten, diesmal in seinem pompösen Palast zu einem reichhaltigen Mahl aus Pasteten und fetten Würsten.
Bischof Bernard Rigaud war ein seltsamer, bärbeißiger alter Mann, doch unter seinem Käppchen war der Schädel rosa und flaumig wie der eines Neugeborenen. Seine blauen Augen traten beängstigend hervor, sodass Michel nur mit Mühe den Blick davon abwenden konnte ... ebenso wie vom Teller des Bischofs, auf dem die Pasteten und Würste zu einem unkenntlichen Brei zusammengemengt waren.
»Zum Wohl der Kirche und Seiner Obersten Heiligkeit muss an Äbtissin Marie Francoise ein Exempel statuiert werden. Niemand darf ein Verbrechen gegen den Papst begehen - noch dazu innerhalb seines Palastes - und überleben.« Rigaud beugte sich vor und sprach leiser, als fürchtete er sich vor ungebetenen Lauschern. »Aber wir müssen rasch handeln, so rasch wie möglich, und diskret. Viele Ortsansässige nehmen bereits Anstoß an den Verhaftungen.«
Letzteres war nicht verwunderlich. Die Bevölkerung im Süden, vor allem hier im Languedoc, erinnerte sich noch gut an das Blutbad, das hier und in der nahe gelegenen Hauptstadt Toulouse stattgefunden hatte. Zehntausende waren von Rittern aus dem Norden im Namen Gottes und des Pariser Königs niedergemetzelt worden. Es spielte keine Rolle, dass die Opfer Gotteslästerer gewesen waren- Albigenser, die an zwei Götter glaubten, einen bösen und einen guten, und Mitglieder des radikalen Zweigs der Franziskaner, Fraticelli, die behaupteten, Jesus Christus habe kein Eigentum besessen, weshalb die Kirche ebenso arm sein solle.
Allein bei dem Gedanken, die Äbtissin ohne peinliche Befragung und ohne Gerichtsverfahren zu verurteilen, lag Michel ein entsetzter Protest auf der Zunge. Bevor Mutter Marie Francoise verhaftet wurde, hatte die Kirche ihr gegenüber - zumindest offiziell - entschiedene Skepsis an den Tag gelegt, und Michel hatte seine Meinung wohlweislich für sich behalten, um sich selbst und seinem Mentor nicht nur Peinlichkeiten, sondern auch Misstrauen zu ersparen.
Noch ehe er den Satz, Aber, euer Heiligkeit, wie sollen wir ihrer Schuld sicher sein, wenn wir keine richtige Befragung durchführen?, ausgesprochen hatte, ergriff Vater Charles das Wort.
»Eure Heiligkeit«, antwortete der kleine Priester äußerst respektvoll, »ich verstehe gewiss Eure Bedenken. Doch ich kann nur tun, was Gott und das Gesetz der Kirche ...«
»Ihr sollt tun, was Kardinal Chretien befohlen hat«, erwiderte Rigaud mit fester Stimme. »Lasst es mich so formulieren: Er ist ... besorgt über die geringe Anzahl von Schuldigsprechungen von Eurer Seite, Vater, und Euer Zögern, die Folter auch einzusetzen. Die Äbtissin Marie Francoise ist eine Chance für Euch, etwas.... wiedergutzumachen.«
»Wiedergutmachen?«, fragte Michel, der auf einen Wink von Vater Charles eilig den Blick senkte und seiner Stimme einen ehrerbietigen Ton verlieh. »Aber, Euer Heiligkeit, wir sind vor zwei Tagen erst von Kardinal Chretien gekommen, und er hat keinen derartigen Befehl ...«
Charles legte eine zügelnde Hand auf die Schulter seines jungen Schützlings, doch es war zu spät. Der Bischof hatte bereits den Kopf in den Nacken gelegt und die Brust wie eine Natter kurz vor dem Zubeißen aufgebläht. »Ihr wollt mich der Lüge bezichtigen, mein Junge?«
Doch dann atmete er unvermittelt tief aus und lächelte. »Ach ja, Ihr seid sein Adoptivsohn, nicht wahr, Michel? Euer Vater hat euch doch
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