Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
ausgesprochen schlichter Bauweise war. Im Gleichschritt mit dem Priester ging Michel die im Laufe der Zeit ausgetretenen, schrägen Stufen hinauf, die zu den schweren, hölzernen Doppeltüren führten, vorbei an Juristen und streitlustigen Klienten. Ein Mann, dessen schweißglänzende Stirn angestrengt in Falten gelegt war, stand Wache und deutete wortlos auf eine offene Tür, als die beiden Dominikaner auf ihn zukamen.
Michel betrat das Gebäude und blinzelte, bis sich seine Augen an das abrupte Dämmerlicht gewöhnt hatten. In dem langen, schmalen Eingangsbereich gab es keine Fenster. Die einzige Lichtquelle war eine brennende Fackel, befestigt an der feucht schimmernden Wand. »Kerkermeister!«, rief der Priester, zog mit spitzen Fingern ein weißes Taschentuch aus dem Ärmel, hielt es sich vor die Nase und bedeckte so auch seinen schwarzen Schnurrbart und den größten Teil seines dünnen Bartstreifens. Hier drinnen war die Luft zwar kühler als draußen, doch ganz gewiss nicht angenehmer. Der Duft von Rosen und Lavendel vermischte sich mit dem Geruch nach menschlichen Exkrementen, altem Urin und Elend. Alle Gefängnisse rochen gleich, und jeder Besuch rief in Michel dieselbe Erinnerung an seine Kindheit wach: ein Schwein, dessen Schlachtung vom Koch des Klosters verpfuscht worden war. Der Hals des Tieres war nicht richtig abgetrennt, sodass es flüchtete, quiekend über den Hof lief, eine Spur von Blut und Exkrementen hinter sich herzog und dabei einen noch schrecklicheren, durchdringenden Geruch verbreitete - der Koch hatte ihm später erklärt, das sei einfach der Geruch von Angst gewesen.
Menschliche Qual erzeugte auf unheimliche Weise einen ähnlichen Gestank, der zudem noch lange anhielt, wenn das Leiden längst beendet war.
Es war totenstill. Dann näherten sich ungleiche Schritte. Metall klirrte. Aus dem Dunkel tauchte der Kerkermeister auf, ein kleiner, breitschultriger, feister Mann mit einem leichten Klumpfuß. Zunächst schien es, als hätte er eine Tonsur wie ein Mönch, doch bei näherem Hinsehen war sein spärliches Haar eindeutig als das Werk von Zeit und Natur zu erkennen.
»Ah, Vater!«, rief er und lächelte, wobei er die beiden verbliebenen Schneidezähne bloßlegte. »Vater Charles, nicht wahr? Herzlich willkommen! Wir haben Euch bereits sehnlichst erwartet! Uns wird nicht oft die Gnade eines kundigen Mannes wie Euch zuteil.« Bei den Zischlauten pfiff er scharf durch die Lücke, wo der Eckzahn fehlte. Hinter dem weißen Taschentuch erwärmte sich der Ausdruck des Priesters ein wenig, doch er lächelte nicht; die anstehende Aufgabe war zu unerfreulich. Stattdessen nickte er gnädig und erwiderte gedämpft: »Könnt Ihr mir sagen, ob Vater Thomas und sein Gehilfe bereits eingetroffen sind?«
Der Kerkermeister schüttelte den Kopf. »Die Folterknechte sind da, aber kein Wort von Vater Thomas.«
Thomas, der dem Inquisitionstribunal angehörte, hätte die Reise von Avignon gemeinsam mit Charles und Michel unternehmen sollen, war jedoch durch »persönliche Angelegenheiten« aufgehalten worden. Bei einem anderen Priester hätte Michel sich Sorgen wegen der Straßenräuber gemacht, doch er kannte die Gerüchte. Aus Charles' angespanntem Schweigen zu dieser Angelegenheit schloss er, dass Thomas' Verspätung wohl mit dessen Mätresse zu tun hatte.
Als einer von Chretiens Lieblingsschützlingen (beliebter noch, wie Michel zuweilen vermutete, als der eigene Sohn des Kardinals) übte man Thomas gegenüber besondere Nachsicht.
»Können wir die Gefangene dann sehen?«, bat Charles den Kerkermeister höflich. »Die Äbtissin Mutter Marie Francoise?«
»Oh, ja ...« Der Kerkermeister verdrehte die dunklen Augen, die so tief lagen und so schmal waren, dass man das Weiße darin nie sah.
»>Die Große Hure von Carcassonne< wird sie genannt. Aber Ihr solltet wissen, dass einige der Ortsansässigen hier sie noch immer für eine Heilige halten und alles andere als erfreut über einen Prozess sind. Das soll jetzt aber nicht heißen, dass ich zu denen gehöre.« Er hielt inne. Eine gewisse Lüsternheit schlich sich in seine Stimme. »Vater, stimmt das alles? Was sie im päpstlichen Palast getan haben soll?«
Angewidert verzog Michel den Mund. Er hatte das Gerücht vernommen, laut dessen die Äbtissin einen obszönen widernatürlichen Akt vollzogen haben sollte, einen Akt der Magie, mit dem Ziel, Papst Innozenz zu schaden. Doch sie hatte dieses Verbrechen nicht begangen, sondern genau das Gegenteil
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