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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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und dick, die Enden waren abgerundet und mit filigranen Mustern üppig verziert, und der goldene Christus, der daran hing, war so gewissenhaft geformt, dass man jede einzelne Dorne seiner Krone erkennen konnte, ebenso die Pupillen in seinen Augen. Über ihm war eine Schriftrolle befestigt: I.N.R.I, Jesus von Nazareth, König der Juden, und darüber war der sechseckige Davidstern eingraviert - eine ungewöhnliche Ergänzung. Der Wert von so viel Gold war unermesslich.
    Der Bischof, dessen altersschwache Hand leicht zitterte, machte das Kreuzzeichen über den beiden Knienden und sagte: »Diese Kreuze sind vom Papst persönlich geläutert und gesegnet worden. Legt sie während Eurer gesamten Mission niemals ab, denn sie ist eine gefährliche Frau, und diese Kreuze werden Euch vor ihrer Macht schützen.« Rigaud wollte sich schon abwenden, hielt dann inne und fügte mit der Andeutung eines Lächelns hinzu: »Ihr werdet einen solchen Schutz benötigen, denn Chretiens Spione sind überall. Ihr werdet peinlich genau überwacht. Gebt Acht, dass Ihr ihn nicht enttäuscht, Vater. Euer Scheitern wird eine ernste Strafe nach sich ziehen.«
    Als die Audienz beim Bischof beendet war - die Terz war längst angebrochen und fast der halbe Vormittag vergangen - hatte die Sonne, die ihnen nach dem Dämmerlicht im Palast in den Augen stach, bereits das Pflaster erwärmt. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, bis Michel begann: »Vater, sagt mir, dass mich meine Ohren getäuscht haben. Sagt mir, dass Rigaud uns nicht droht, falls wir die Äbtissin nicht für schuldig befinden.«
    Charles blieb stehen und wandte sich seinem Schreiber zu. »Zunächst, Michel, sind nicht wir diejenigen, die sie für schuldig oder unschuldig befinden. Ich muss die Entscheidung treffen, und daher geht es dich nichts an.« Gedemütigt neigte Michel den Kopf zum Zeichen des Einverständnisses.
    Charles fragte in milderem Ton: »Du hältst sie für eine Heilige, nicht wahr?«
    Michel zögerte. Schließlich antwortete er leise: »Ich ... ich bin nur gespannt auf die Berichte, Vater. Ich fühle mich verpflichtet, dem zu vertrauen, was Ihr und der Kardinal zu der Angelegenheit zu sagen habt.«
    »Dann höre, was ich zu sagen habe«, sagte Charles beiläufig. »Es ist nicht an dir, die Schuld oder Unschuld von Gefangenen zu beurteilen. Das ist meine Aufgabe. Und was den Bischof angeht, er kann uns drohen, so viel er will, doch ich werde noch heute Abend eine Eilbotschaft an den Kardinal schicken und ihn vor Rigauds unangemessenen Bemerkungen warnen. Du musst dich nicht vor ihm fürchten.«
    Wieder neigte Michel das Haupt, diesmal aus Dankbarkeit dafür, dass Vater Charles bereit war, ihn vor jeglicher Gefahr zu bewahren. Außerdem zweifelte er nicht daran, dass der Priester alles tun würde, was recht war vor Gott.
    Wenn Mutter Marie Francoise tatsächlich eine Heilige war, würde Charles es erkennen, sobald er ihr leibhaftig begegnete und ihr Zeugnis hörte, und ein gerechtes Urteil fällen.
    Michel seinerseits würde unablässig zu Gott beten, er möge den Kardinal umstimmen.
    Schließlich kam erneut Bewegung in die Menge, die Milch schwappte wieder leise und verbreitete einen leicht angesäuerten Geruch. Es ging immer rascher voran, und schon bald schritten die beiden Männer munter über die Pflastersteine der schmalen Straße, vorbei an großen, schmalen Läden mit hölzernen Auslagekästen, die sich direkt zur Straße hin öffneten, so weit, dass Michel mit dem Ärmel daran entlangstreifte: duftende, abkühlende Brotlaibe, stark aromatischer Käse und neue Lederschuhe. Über ihren Köpfen lehnten sich die oberen Etagen der hölzernen Gebäude, in denen die Kaufleute mit ihren Familien wohnten, beunruhigend vor. In einigen Fällen berührten sich die gegenüberliegenden Häuser tatsächlich, sodass die Passanten unten auf der Straße in den Schatten tauchten. Als er lautes Gelächter hörte, schaute Michel nach oben und die Frau des Bäckers, die scherzend aus ihrem Fenster im zweiten Stock langte und ihrer Nachbarin, der Frau des Weinhändlers, die in ihrem Haus auf der anderen Straßenseite stand, einen freundschaftlichen Klaps auf den Arm versetzte.
    Allmählich nahm die Zahl der Läden ab, sie standen jetzt weiter auseinander, während die Straße breiter wurde. Dort, wo sie eine andere breite Straße kreuzte, stand das Gefängnis, ein großer Steinblock, der in Breite und Höhe nur den Bruchteil einer Kathedrale ausmachte und von

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