Kalt ist der Abendhauch
Hause und strickte Babysachen. Hugo mußte keinem Kunden Schuhe an- und ausziehen, er langweilte sich an der Kasse. Mitunter verschwand er im Lager. Ich hielt es für eine gute Idee, mich unter einem Vorwand dorthin zu begeben, wo Hugo auf einer Kiste saß und rauchte. Er hat mich damals zwar nicht verführt, wie ich es mir wünschte, aber er animierte mich zum Rauchen. Hugo hätte sich zwar auch in Vaters Büro eine Zigarette anstecken können - im Laden war es verboten -, aber er wollte den Schwiegervater nicht auf die Häufigkeit seiner Pausen aufmerksam machen. Wir wurden Komplizen.
Hugo war nur wenige Monate älter als seine Frau und damals einundzwanzig. Er war vernarrt in sie; mich hielt er für ein Kind. Ida sah es allerdings nicht gern, daß ich ihre Stelle im Laden einnahm. Sie setzte sich, wenn auch nicht ganz selbstlos, dafür ein, daß ich weiter zur Schule gehen sollte. »Papperlapapp«, sagte Vater nur. Für mich war dieses Thema sowieso gestorben, denn ich verliebte mich täglich mehr in Hugo, und angesichts von Idas dickem Bauch malte ich mir wider jede Vernunft und Moral weiterhin ihren baldigen Tod im Kindbett aus.
Hugos und Idas Tochter wurde Heidemarie getauft, was die Brüder zu witzigen Anspielungen veranlaßte, allerdings nicht in Gegenwart meiner Eltern. Hugo sagte dazu nur: »In und um Darmstadt gibt es keine Heide.«
Sowohl Ida als auch Heidemarie überstanden die Geburt nicht nur lebend, sondern in bester Verfassung. Hugo hatte mich als Patin vorgeschlagen, aber Ida zog Fanni vor.
Ob Heidemarie ihren Papa demnächst bei mir abliefern wird? Inzwischen ist sie Sechsundsechzig, grau wurde sie schon mit fünfzig.
Ich sagte bereits, daß Hugo zwar früh im Leben Ehemann, Vater und Juniorchef wurde, aber im Grunde noch gar nicht genau wußte, was er wollte. Wahrscheinlich hätten ihm ein paar Jahre Studium unter Gleichaltrigen gutgetan, so leistete nur ich ihm Gesellschaft.
Die Damenabteilung in Vaters Laden war die größte, deshalb befand sich auch dort die Kasse. Papa hätte mich aus pädagogischen Gründen lieber bei den Kindern gesehen, aber er ließ mir (vielleicht aus schlechtem Gewissen) die Wahl. Ich verkaufte Damenschuhe, weil ich von dort aus zu Hugo hinübersehen konnte. Wenn Fräulein Schneider in der Herrenabteilung und Vater im Büro war, dann versuchte ich, um Hugo zu imponieren, den Käufern Ladenhüter oder völlig unpassendes Schuhwerk anzudrehen.
Eines Tages erschien meine frühere Lehrerin, Fräulein Schneegans, im Geschäft. Erfreut, mich zu sehen, ließ sie sich sofort schnaufend bei mir nieder.
Sie brauche schwarze Schuhe, die zu ihrer grauen Garderobe paßten, bequem und langlebig, nicht unbedingt dem Modediktat unterworfen und auch kein Vermögen wert. Ich holte ein Paar der gewünschten Sorte, zusätzlich aber noch einige Paradiesvögel - rote Tanzschuhe, Lack- und Flechtpumps, hochhackige Abendschuhe und römische Schnürsandalen. Anfangs lächelte sie mitleidig. »Charlotte, du bist noch nicht sehr lange in der Lehre.« Aber ich beschwatzte sie, den gelben Sommerschuh mit schwarzer Krokokappe doch wenigstens einmal anzuprobieren. Es war ein extravagantes Exemplar aus handschuhweichem Leder. Ich brach in Entzücken aus und winkte Hugo herbei, auch er war Feuer und Flamme. Was für einen zierlichen Fuß sie habe, und wie dieser Schuh den hübschen Fuß erst zur Geltung bringe! Das ältliche Fräulein war verwirrt. Als sis mit gelben Füßen den Laden verließ, wollten wir uns ausschütten vor Lachen.
Am nächsten Tag rauschte sie erneut, aber grußlos, in den Laden und verlangte, meinen Vater zu sprechen. Sie gab die Schuhe zurück und beschwerte sich. Mein Vater hat sich wohl auch amüsiert, denn er haßte Lehrerinnen. Nur aus Prinzip mußte ich ein fürchterliches Donnerwetter über mich ergehen lassen. Daß Fräulein Schneegans ihm ans Herz legte, mich wieder in die Schule zu schicken, gab ihm trotzdem zu denken.
In einem der Lagerräume standen zimmerhohe Regale; wenn es sich ergab, pflegten wir dort wie die kleinen Kinder Fangen und Verstecken zu spielen. Einmal wurden wir von Fräulein Schneider erwischt, aber nicht verpfiffen, lediglich heftig angeräuspert. Wir waren anders als die heutige Jugend - in der frühzeitigen Übernahme von Pflichten ihr voraus, in der geistigen Reife hinterdrein. Wenn ich sehe, wie lange heute die Kinder gutverdienender Eltern finanziell abhängig bleiben, andererseits aber völlig selbständig die Welt bereisen, wie sie
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