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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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die Putzaktion starten.«
    Ich glaube, Susi ist seine Freundin, obgleich sie beim letzten Mal Simone hieß.
    Als er verschwindet, lege ich mich schnell aufs Sofa. Es ist anstrengend, einen lebhaften jungen Menschen bei sich zu haben, aber auch ein großes Glück. Felix ist rundherum gut geraten, von wem er das bloß hat? Meine eigenen drei Kinder waren schwierig (speziell seine Mutter), und meine anderen Enkel sind genauso. Am meisten Kummer bereitet mir Cora, die als kleines Mädchen mein Liebling war. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen, hin und wieder schickt mir mein Sohn Ulrich ein Foto. Als Cora klein war, hatte ich das Gefühl der eigenen Wiedergeburt. Exakt meine Haarfarbe, dachte ich stolz und übersah ganz, daß Coras Mutter ebenfalls rothaarig war. Merkwürdigerweise ist ausgerechnet Felix, den ich als kleinen Bub nicht hübsch fand, meine große Altersliebe geworden - von Hugo einmal abgesehen.
    Jedesmal, wenn Felix fort ist, fällt mir ein, was ich ihn fragen und wovon ich selbst erzählen wollte oder was er noch schnell für mich hätte tun sollen. Ich wollte ihm von Albert erzählen, aber dann habe ich es doch wieder vergessen.
    Nach Idas Hochzeit und Heidemaries Geburt sahen wir Albert längere Zeit nicht, weil er in den großen Ferien im Internat blieb. Er war in seinen Leistungen abgesunken und erhielt Nachhilfe.
    Als er an Weihnachten endlich wieder heimkam, hatte er sich verwandelt, glich einem gerade erst aus dem Kokon geschlüpften Insekt. Albert war leicht verspätet in die Pubertät gekommen, war in die Länge geschossen und hatte dabei seine Rundungen verloren. Wie so mancher Knabe in diesem Alter wirkte er ungelenk und unausgewogen, das Näschen war zum Zinken mutiert, auf der prallen Babyhaut sprossen Pickel, und vor allem die Stimme klang fremd. »Ich darf nicht mehr mitsingen«, klagte Albert. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, obgleich klar war, daß seine Gestalt im Umbruch und keineswegs fertig war. »Wie sehe ich aus?« fragte er mich.
    Ich hätte beinahe »abscheulich« geantwortet. Es war lächerlicher als früher, daß Albert immer noch meine Kleider anprobieren wollte, die ihm nun zu klein waren. Außerdem machte er ein solches Geheimnis darum, weihte selbst mich nicht mehr ein. Aber ich überraschte ihn dabei, wie er auf dem Dachboden eigenartige Frauenrollen probte. Nachdem ich geschworen hatte, ihn nicht zu verraten, durfte ich zuschauen, wie er eine Kurtisane darstellte. Ich war über seine Detailtreue schockiert, denn sie führte dazu, daß er meine Unterwäsche trug.
    In unserer Familie, und wohl in den meisten, ging es für heutige Begriffe prüde zu. Zwar las man in der Zeitung, daß im fernen sündigen Berlin eine Josephine Baker nur im Bananenschurz auftrat, aber es war klar, daß es sich um eine unzivilisierte Exotin handelte. Ich habe meine Eltern nie unbekleidet gesehen, ebensowenig meine Brüder oder Ida. Nur mit Fanni habe ich als kleines Mädchen gemeinsam in einer Badewanne gesessen, später mußte ich die acht Jahre jüngere Alice an- und ausziehen. Es kam mir sündhaft vor, Albert in Unterrock und Mieder vor mir zu sehen, und ich wagte kaum, ihn richtig zu betrachten. Schüchtern schlug ich ihm vor, lieber Buster Keaton, Charlie Chaplin oder gar den Nosferatu zu imitieren. »Ich habe nun mal anderes im Sinn«, sagte er.
    Anderes im Sinn hatte auch die übrige Familie: Vater hatte zu Weihnachten einen »Detektor-Empfänger« angeschafft. Wie gebannt saßen wir alle um den Eßtisch herum, auf dem das schwarze Radio stand, mit abwesendem Blick, die Kopfhörer auf den Ohren, ein glückliches Lächeln um die Lippen. Albert machte sich nichts daraus, und keiner vermißte ihn. Da Vater fortschrittsgläubig war, soweit es die Technik betraf, hörten wir das Rundfunkprogramm schon fünf Jahre später aus einem Lautsprecher. Wäre Papa heute ein junger Mann, dann würde er sicher seine Tage und Nächte vor einem Computer verbringen. Ich erinnere mich, daß Lindberghs Flug von New York nach Paris mit einem Punsch gefeiert wurde, an dessen Folgen Ida drei Tage lang litt.
    Es ist seltsam, daß mir mein Vater viel häufiger ins Gedächtnis kommt als meine Mutter, obgleich sie ihn um Jahre überlebte. In meiner Vorstellung sehe ich sie stets stopfen, seit wir ein Radio besaßen, mit Musikbegleitung. Manchmal sang sie selbst: Vilja, o Vilja oder Mädel aus dem schwarzen Wald. Wenn es etwas zu entscheiden galt, schickte sie uns zum Papa; sie wich der erzieherischen

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