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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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zwar mit ihren Liebsten unangefochten zusammenleben, aber in einer Welt ohne Zukunft, dann weiß ich nicht, ob sie es besser haben.
    Albert allerdings hätte es heute leichter gehabt. Immer wenn ich an ihn denke, fühle ich Scham- und Schuldgefühle in mir hochsteigen. Er liebte es, wenn die Großen von seiner Geburt erzählten. Im Kinderzimmer hatten die Geschwister mit Hingabe den Untergang der Titanic gespielt, wobei das für Albert vorbereitete Babybettchen als Luxusschnelldampfer diente. Die Erwachsenen kümmerten sich nicht um sie, denn unsere Mutter lag im Schlafzimmer und litt. Fanni und mich hatte man zur Großmutter gebracht. Als Albert endlich auf der Welt war, schickte man das Dienstmädchen hinauf, um die Kinder zu holen. Sie fand das umgeworfene Bettchen, viele weiße KissenEisberge auf dem Boden und drei Ertrinkende, die entsetzlich um Hilfe schrien. Man schalt sie aus, daß sie im Augenblick der Geburt eines kleinen Bruders solchen Blödsinn trieben, und sie gerieten in Wut auf den Störenfried.
    Albert hörte das gern. Zuweilen behauptete er, ihm sei durch die Stunde seiner Geburt ein Tod durch Ertrinken bestimmt. Später sorgte er selbst dafür, daß sich seine Prophezeiung nicht bewahrheitete.
    »Wo brennt's denn, Oma?« fragt Felix. »Du hast es doch tatsächlich fertiggebracht, auf meinen Anrufbeantworter zu sprechen.«
    »Was soll schon dabei sein, das kann ja jedes Kind. - Sag mal ehrlich, wie sieht es hier aus?«
    »Vielleicht solltest du dir mal eine Putzfrau gönnen«, meint Felix vorsichtig.
    »Ich mag keine fremden Gesichter um mich, das weißt du. Außerdem muß erst tapeziert und gestrichen werden, dann kommt der große Frühjahrsputz.«
    Mein Enkel ahnt endlich, warum ich ihn hergebeten habe.
    »Hugo kommt zu Besuch«, erkläre ich, »das ist der Anlaß, aber nicht der Grund.«
    Wer denn Hugo sei?
    Die jungen Leute heutzutage kennen sich mit der eigenen Verwandtschaft nicht mehr aus. »Der Mann meiner verstorbenen Schwester Ida, also mein Schwager.«
    »Ist wohl auch nicht mehr der Jüngste«, bemerkt Felix.
    Ich zeige ihm zwei Kartons voller Miele-Kitsch. Ob er alles in eines der oberen Zimmer tragen könne oder Verwendung dafür habe? Er weiß Rat: den Flohmarkt.
    Felix wirft sich in einen Sessel, schubst Hulda an und fragt sie: »Na, altes Mädchen, geht's dir gut bei meiner Großmutter?«
    Wie schon oft hat Felix sowohl den struppigen Köter aus seiner Wohngemeinschaft als auch ein buschiges Geschenk mitgebracht. Man kann dieses Gebinde nicht Blumenstrauß
    nennen, denn es besteht hauptsächlich aus Zweigen, die er im Vorbeigehen abgerupft hat; üppig genug, daß ich meinen blaugrauen Gurkentopf damit füllen kann. Schön sieht der Strauß aber dennoch aus, Felix ist der geborene Dekorateur. Winzig kleine violette, ins Braune schimmernde Fliederknospen, die wohl nimmermehr aufblühen werden, das helle, fast gelbe Grün von jungen Ahornblättern, weiße Sauerkirschblüten an spillerigen Gerten, olivfarbene Weidenkätzchen, dunkle Holundertriebe und sogar ein Johannisbeerzweig vereinigen sich zu einer Komposition in frischem Frühlingskolorit.
    »Grün tut gut bei müden Augen«, sagt mein guter Junge und greift zum Telefonhörer. Er macht Nägel mit Köpfen, das heißt, er ruft seine Freunde an. Binnen einer Stunde hat er einen Trupp handwerklich versierter Studenten zusammengetrommelt, die morgen bereits mit dem Ausräumen beginnen sollen. »Am besten, du ziehst für ein paar Tage aus«, schlägt Felix vor.
    Das will ich aber nicht. Mein Sohn Ulrich hat nie Zeit und nur ein schlechtes Gewissen, wenn ich zu Besuch komme, meine Tochter Regine, die Mutter von Felix, ist geschieden, berufstätig und ungemütlich. Und Veronika lebt schließlich in Amerika, das wäre ein teurer Blitzbesuch. »Ich bleibe hier, Kind, ihr werdet euch ja nicht alle Zimmer gleichzeitig vorknöpfen.«
    »Also gut, Oma, dann mußt du aber auch für meine Kumpel kochen«, sagt er, um mich zu ärgern. Er weiß genau, daß ich mit diesem Kapitel ein für allemal abgeschlossen habe.
    »Welche Farbe sollen die Wände denn bekommen? Kalkweiß, schneeweiß oder leichenblaß?«
    »Eierschale«, sage ich wild entschlossen.
    »Und was ist mit dem oberen Stock?«
    Ich schüttle mein greises Haupt.
    Felix nimmt Papier und Bleistift und notiert, was er braucht: Rauhfasertapete, Farbe, Kleister und Abdeckfolie muß er kaufen, Quast und Pinsel besitzt er, einen Tapeziertisch kann er ausleihen. »Susi und ich werden hinterher

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