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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Zettel und schreibe auf, was ich sagen will. Ohne ein einziges »äh« und »hm« wird meine Nachricht aufgenommen. Meine Tochter Regine, die Mutter von Felix, hat mir wiederholt eingeschärft, daß man einen jungen Mann nicht vor zwölf Uhr mittags anrufen darf. Ich halte das aber für einen Scherz, denn die Vorlesungen werden ja wohl nicht samt und sonders am Nachmittag beginnen.
    »Ich liebe dich, Mom«, sagt Hulda plötzlich. Wahrscheinlich bin ich am hellichten Tag vor laufendem Fernseher ein wenig eingenickt; in diesen blöden amerikanischen Serien sagen Eltern, Kinder, Brüder und Schwestern unentwegt solche Sätze zueinander, gelegentlich auch einmal Liebespaare. In meiner Kindheit war es unmöglich, daß Familienmitglieder derart miteinander sprachen, obgleich sie sich doch sicher nicht weniger mochten als die Amis im Fernsehen. Habe ich es meinen eigenen Kindern je gesagt? Ich bin dazu erzogen worden, die Liebe zu leben und nicht zu zerreden! Soll ich Hugo etwas gestehen, was ich seit über sechs Jahrzehnten verschwiegen habe? Er weiß es doch sowieso.
    Ob ich Hulda verschwinden lasse, wenn er kommt? Kennt er mich gut genug, um diesen kleinen Scherz richtig aufzufassen? Am Ende hält er mich für meschugge, verkalkt, verblödet. Meinerseits muß ich natürlich auch aufpassen, daß ich seine möglichen Spleens nicht ebenso in die senile Schublade einordne. Hugo war zweifellos ein schöner Mann, sonst wären wir nicht alle auf ihn geflogen: Ida, Mielchen, Fanni, ich und noch so manche andere. Aber das Aussehen allein war es nicht, er hatte Charme und Witz und war, wie man heute sagt, sehr sexy. Was mag davon übriggeblieben sein?
    Nicht nur ich war an Idas und Hugos Hochzeit unglücklich, auch Albert zeigte eine merkwürdige Unruhe. Trotzdem kümmerte er sich als einziger der Familie ein wenig um mich, während die anderen von hektischer Betriebsamkeit erfaßt wurden. Das Geschäft blieb für einige Tage geschlossen, für die Verkäuferinnen und Lehrlinge war es aber Ehrensache, am Hochzeitstag nach Kräften zu helfen. Nach der Trauung wollte man ein großes Essen geben. Wohn-, Eßzimmer und Salon wurden mit langen Tischen ausgestattet, in der Küche versetzte eine fremde Köchin unsere eigene in Verwirrung. Vom Bett aus hörte ich das Rücken, Schleifen, Klirren, das Rufen, Weinen, Kichern. Albert tauchte immer wieder bei mir auf, brachte Tee und Zwieback und erzählte, daß das Dienstmädchen die Meißner Terrine zerbrochen, Alice von der Torte genascht und unsere Mutter ihre Amethystkette verlegt habe. Fiebrig und matt hörte ich mir alles an. »Sicher möchtest du Ida im weißen Kleid bewundern«, sagte Albert. Ich lehnte ab.
    »Wo ist deine Spitzenbluse«, fragte er dann und ging zielstrebig an den Kleiderschrank. Wofür brauchte er sie? »Man wird sich noch über mich wundern«, sagte er, wirkte dabei aber unsicher.
    Ich war zu krank, um weiterzufragen. Später wurde mir alles erzählt: Die Geschwister hatten sich Überraschungen
    ausgedacht. Hugos Schwestern führten ein kleines Theaterstück auf, Heiner hatte eine Hochzeitszeitung mit Kinderfotos des Paares gedruckt. Ernst Ludwig und Fanni tanzten in höfischen Kostümen ein Menuett. Selbst unser Pfarrer feierte mit und wurde lustig; natürlich gab es auch ernsthafte oder rührselige
    Reden. Als das Programm eigentlich zu Ende war, erschien ein Chorknabe in meiner Bluse, die er als langes Spitzenhemd über seine kurze Hose hängen ließ. In aufgedrehter Stimmung brach Heiner in Gelächter über dieses Schloßgespenst aus, aber Fanni warf ihm einen warnenden Blick zu, setzte sich ans Klavier und begleitete Albert. Er sang das Ave Maria.
    Der evangelische Pfarrer wurde unruhig, katholischer Gesang war ihm zuwider. Mein Vater hörte plötzlich voller Scham, daß sein jüngster Sohn mit Kastratenstimme sang, ein dicker, weichlicher Knabe, der in Liebe und Verlegenheit das Brautpaar anstrahlte. Als man noch überlegte, ob es sich um papistischen Kitsch handelte und ob man klatschen sollte, bemerkte Hugos betagter Großvater überlaut: »Ein allerliebstes Mädchen!«
    Meine Mutter bewies zum ersten Mal in ihrem Leben Geistesgegenwart, denn sie sagte entschieden: »Ja, ohne unsere Fanni müßten wir auf Klavierbegleitung verzichten.«
    Albert erwartete Beifall, aber irgendeine Scheu hielt alle davon ab. Wer war dieses Wesen, das gerade wie eine Frau gesungen hatte, wie ein Meßdiener gekleidet war und dem Tränen der Rührung in den Augen standen? Heute

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