Kalt ist der Abendhauch
Verantwortung aus, so daß wir uns kaum mit ihr auseinandersetzen konnten. Leider begann ihre Entwicklung zur Persönlichkeit erst, als er tot war.
Meine Mutter liebte Hugo und legte immer wieder bei Vater ein gutes Wort für ihn ein, was auch nötig war, denn bald schon wurde Hugo der Kaufmannsberuf langweilig. Handwerkliche Qualität konnte er nicht wie mein Vater von minderen Erzeugnissen unterscheiden, und er konnte die Schuhe auch nicht überzeugend anpreisen. Wie ein Schuljunge begann Hugo damals unter dem Kassentisch Romane zu schmökern. Anfangs las er Conan Doyle, später hatte er mit Shaw, Hamsun und Galsworthy heimliche Stelldicheins. Fräulein Schneider wagte nicht, den Juniorchef direkt zu rügen, sie tat es ihrer treuen Art gemäß durch plötzliches Erheben der Stimme. Als Vater dahinterkam, war er außer sich. Erstens wurde die Reputation seines angesehenen Geschäfts ruiniert, zweitens hielt er das Lesen von unterhaltsamen Büchern für eine mittlere Perversion.
Auch ich hielt nicht viel davon. Ich wollte mit Hugo Blicke tauschen, ihn anlächeln, ihm gefallen. Er hatte sich angewöhnt, nur hochzuschauen, wenn Fräulein Schneider ihn auf nahende
Kunden aufmerksam machte, dann ließ er mit einer hastigen Bewegung das Buch verschwinden.
Allerdings traute sich Hugo nicht, bei seinen Zigarettenpausen den Roman mitzunehmen; es konnte bei den Verkäuferinnen den Eindruck erwecken, er hätte sich im Keller häuslich niedergelassen. Wenn wir gemeinsam rauchten, erzählte er mir, was er gerade gelesen hatte. Hugos Begeisterung steckte mich an. Ida las nur illustrierte Zeitschriften, ich hatte ein Mittel entdeckt, sie auszustechen. Ohne Hugo wäre ich wohl nie eine Leseratte geworden und dann mein Leben lang geblieben.
Eines Tages wurden wir von Papa ertappt; er hatte uns im Laden nicht angetroffen und Fräulein Schneider befragt. Sie behauptete, wir holten Schuhe aus dem Lager. Vater, vor dem wir uns sicher wähnten, weil er Treppen haßte, stieg höchstpersönlich hinunter und traf uns dicht nebeneinander auf einer Kiste hockend und rauchend. Er erkannte die Situation recht gut - Hugos Arbeitsscheu, meine backfischhafte Verliebtheit und dazu die gemeinsame Qualmerei. Wir sprangen hoch, rot vor Scham. Vater sagte nichts, und das war schlimmer als ein Wutausbruch, denn wir wußten nicht, was noch käme.
Nach Ladenschluß rief mich Vater ganz offiziell in sein Büro. Für alle Fälle weinte ich gleich los, doch da er vier Töchter hatte, konnten ihn Tränen nicht mehr erweichen. »Vorne wird getrommelt un hinne kei Soldade«, sagte er bloß. Aber dann kam es überraschend sanft: »Möchtest du vielleicht wieder in die Viktoriaschule gehen?«
Erst zuckte ich mit den Schultern, antwortete aber dann: »In meiner alten Klasse komme ich nicht mehr mit.«
»Ich werde darüber nachdenken...«, sagte Vater. Ohne mit mir weitere Verhandlungen aufzunehmen, meldete er mich am nächsten Tag auf einer privaten Handelsschule an. Aber da es mitten im Schuljahr war, mußte er mich noch einige Monate im Laden ertragen.
Ich bin um vier Uhr morgens aufgewacht, obwohl die Kinder nicht vor neun anfangen wollten, ja es wird zehn, bevor Felix mit seinem Freund, einem zukünftigen Elektroingenieur, kommt. »Schon aufgestanden, Oma?« fragt er. »Als erstes setze ich Wasser für den Kaffee auf; wir werden zunächst eine Lagebesprechung abhalten und frühstücken.«
Eigentlich hätte ich mir das denken können, aber leider habe ich nur etwas vertrocknetes Graubrot in der Speisekammer. Felix beruhigt mich, es sei für alles gesorgt. Kurz darauf erscheint das zweite Paar, diesmal ist ein Mädchen dabei. Schließlich sitzen sie zu sechst am Tisch, trinken Milch aus der Tüte, Kaffee aus meinen Meißner Täßchen und Cola aus der Dose und packen türkisches Fladenbrot, Käse und Salami aus. Sie rupfen Brotstücke ab, belegen und verschlingen sie, ohne ein Messer zu benötigen, wie ich es neuerdings selbst gelegentlich mache. Einer sagt, so früh am Tag bringe er noch nichts herunter, obwohl es schon elf ist. Neugierig blicken sich die jungen Leute um. »Gehört das Häuschen Ihnen«, fragt Susi, »und wer wohnt oben?«
Ich muß wieder einmal erklären, daß ich keine Untermieter in meinem Haus haben möchte und die drei oberen Räume unbewohnt sind. Die Studenten sehen mich gierig an, ich weiß genau, daß sie fast alle auf Wohnungssuche sind. »Ich lebe hier seit meiner Heirat«, erkläre ich matt, »oben ist nur eine einzige
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