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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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Hände. Also gut, dachte er. Dann würde er jetzt eben mit Rufus Gassi gehen. Vielleicht war er danach wieder müde genug, um noch einmal ins Bett zu fallen und bis zum Mittagessen durchzuschlafen. Immerhin war dies der vorletzte Ferientag, und den wollte er auskosten. Dafür waren die Ferien schließlich da.
    Das Haus der Familie Forstner lag am östlichen Stadtrand, und bis zum Fahlenberger Park waren es nur ein paar Gehminuten.
    Rufus zerrte erwartungsvoll an der Leine, und Jan stapfte ihm durch den Schnee hinterher. Die letzten Tage waren sonnig gewesen, und es war kaum Neuschnee gefallen, doch die Nächte fielen eisig aus. Das Thermometer neben dem Hauseingang hatte neun Grad unter null angezeigt, aber der frostige Nachtwind erweckte den Eindruck, als sei es noch wesentlich kälter.
    Einsam und verlassen empfing sie der Park im orangefarbenen Licht der Natriumdampflampen. Bäume und Büsche warfen lange Schatten auf den gefrorenen Boden, und über allem lag winterliche Stille.
    Im Gegensatz zu Jan, der sich in einen dicken Steppanorak
eingemummelt hatte, schien Rufus die Kälte nichts auszumachen. Schwanzwedelnd schnupperte er an den Hinterlassenschaften seiner Artgenossen, setzte seine eigenen Duftmarken an Schneehaufen und jagte einer vorbeiwehenden Plastiktüte hinterher, wobei Jan Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten, ohne auf dem glatten Weg der Nase lang hinzufallen.
    Wenig später erreichten sie das Ufer des Fahlenberger Weihers. Jan ließ Rufus von der Leine, der daraufhin zu einer hoch aufragenden Tanne trottete und dort sein Geschäft verrichtete.
    Jan fühlte sich ein wenig unbehaglich, und das lag nicht nur an der Kälte. Die Stille im Park war unheimlich, fand er. Der Schnee schien alle Geräusche zu schlucken. Nur das leise Pfeifen des Winterwinds, das Hecheln des Hundes und das Knirschen von Jans Schritten waren zu hören.
    Als er so lauschte, durchbrach plötzlich das entfernte Heulen von Polizeisirenen die Stille. Wahrscheinlich waren sie auf der Schnellstraße am anderen Ortsrand unterwegs. Bald konnte Jan mehrere verschiedene Sirenen ausmachen. Zwei oder drei Polizeifahrzeuge und mindestens einen Rettungswagen. Bestimmt ein Autounfall.
    Jan schnappte sich das Ende der Leine und befestigte den Karabiner an Rufus’ Halsband.
    »Komm, wir gehen jetzt.«
    Doch Rufus machte keinerlei Anstalten, auf sein frierendes Herrchen zu hören. Er hatte etwas Hochinteressantes neben dem Mülleimer an einer Parkbank entdeckt: allem Anschein nach eine leere Hamburgerverpackung, die ausgiebig beschnüffelt werden wollte.
    »O Mann, jetzt komm schon«, fuhr Jan ihn an. »Mir ist sauka…«

    Das Wort blieb ihm im Halse stecken. Erschrocken starrte Jan auf die weiße Gestalt, die urplötzlich durch den Park auf ihn zugelaufen kam.
    Ein Gespenst!, schoss es ihm durch den Kopf.
    Ja, das konnte nur ein Gespenst sein! Es sah aus wie die weiße Frau, die laut seinem Buch im Berliner Stadtschloss umging, oder wie eine Banshee , die durch irische Moore geisterte und verirrte Wanderer ins Verderben lockte. Ein richtiger Mensch würde nie und nimmer in dieser Aufmachung durch den Stadtpark laufen - weder um diese Zeit noch bei dieser Affenkälte.
    Jan wollte schreien und davonlaufen, doch vor Schreck war weder das eine noch das andere möglich. Wie festgefroren stand er da und starrte auf den unheimlichen Spuk, der durch die Ulmen und Ahornbäume auf ihn zueilte. Als die Gestalt nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, gesellte sich ein neuer und nicht weniger schlimmer Schrecken hinzu - denn nun erkannte Jan, wer es war. Kein Gespenst, weder eine Banshee noch die weiße Frau. Die weiß gekleidete Erscheinung, die mit wehenden Haaren auf ihn zurannte, war Alexandra Marenburg.
    Schlagartig war ihm klar, weshalb die Klinik bei seinem Vater angerufen hatte und was die Polizeisirenen bedeuteten: Man suchte nach der entlaufenen Patientin.
    Alexandra trug nur ein Nachthemd mit kurzen Ärmeln und dazu dünne Leggins. Ihre Füße steckten in Wollsocken, die von Schnee und Matsch vollgesogen waren. Die nackten Arme und das Gesicht hatten vor Kälte eine blau-violette Färbung angenommen. Jan musste an die Gestalten in einem Horrorfilm denken, den er sich - ohne Erlaubnis der Eltern, versteht sich - mit seinen Freunden bei einem Videoabend angesehen hatte. Tanz der Teufel . Danach hatte er nächtelang nicht schlafen
können, obwohl er sich immer wieder eingeredet hatte, dass es sich nur um maskierte Schauspieler gehandelt

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