Kalte Stille - Kalte Stille
angetreten hatte. Darüber lag Jans neuer Verantwortlichkeitsbereich, die offene Akutstation.
Wie Jan erfuhr, hatte sein Vorgänger, Dr. Mark Behrendt,
sechs Wochen zuvor eine Stelle an einer Klinik in der Nähe von Hannover angenommen - wie es hieß, aus privaten Gründen. Es gab da noch eine weitere, inoffizielle Version über eine Beziehung zwischen Behrendt und einer ehemaligen Kollegin, aber Jan hakte nicht weiter nach. Für Krankenhaustratsch hatte er sich noch nie interessiert.
Professor Raimund Fleischer ließ es sich nicht nehmen, Jan an seinem ersten Tag höchstpersönlich mit dem Klinikbetrieb vertraut zu machen. Zuerst führte er ihn herum, und anschließend stellte er Jan den Mitarbeitern an seiner - wie er es nannte - neuen Wirkungsstätte vor.
Das Pflegepersonal dieser Schicht bestand aus drei Männern. Der erste, den Jan kennenlernte, war Konrad Fuhrmann. Er stellte sich Jan als ›Konni‹ vor.
»So sagen hier alle zu mir«, meinte er schulterzuckend. »Und ich find’s schöner, wenn man mich duzt. ›Herr Fuhrmann‹ find ich irgendwie seltsam. Ich hoffe, das geht in Ordnung für Sie?«
Für Jan ging das in Ordnung, wofür er von Konni ein breites Grinsen erntete. Mit seiner Statur erinnerte er Jan an seine Zeit in einer forensischen Verwahrungsanstalt, wo die Pfleger allesamt als Schwarzenegger-Double hätten durchgehen können. Tatsächlich hatten dort mehrere Pfleger ihr Gehalt als Türsteher in Clubs oder Diskotheken aufgebessert.
Dagegen nahm sich Konnis etwa gleichaltriger Kollege Lutz Bissinger wie ein Werbemodel für die Welthungerhilfe aus. Sein Hauptnahrungsmittel schien Kaugummi zu sein. Den ganzen Tag sah man ihn kauen, und die kurzen, abgehackten Äußerungen, die Lutz gelegentlich von sich gab, harmonierten mit dem fortwährenden Rhythmus seiner Kiefer.
Dritter und jüngster im Bunde war Ralf Steffens, ein für sein Alter ungewöhnlich ernster junger Mann mit blondem Lockenschopf und einem Ziegenbärtchen, das, so vermutete Jan, seine zarten Gesichtszüge etwas männlicher aussehen lassen sollte.
Ralf schien zu spüren, dass Jan nervös war an seinem ersten Arbeitstag. Deshalb half er ihm, wo er nur konnte. Ausführlich machte er Jan mit dem Tagesablauf auf der 9b vertraut. Die beiden verstanden sich auf Anhieb, auch wenn Jan bei Ralf das Gefühl nicht loswurde, dass irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung sei.
Ralf machte auf ihn den Eindruck wie jemand, der sein letztes Geld für einen Lottoschein ausgegeben hat und nun der Samstagsziehung entgegenfiebert. Etwas musste ihn gewaltig bedrücken, und hätten sie sich schon länger gekannt, hätte Jan ihn darauf angesprochen.
Ralf verstand sich aufs Erklären, und Jan war beeindruckt von der Sensibilität, die der junge Pfleger dabei an den Tag legte. Wenn er mit den Patienten auch so umging, waren sie hier in guten Händen.
Ralfs Art und auch die seiner beiden Kollegen bildete einen krassen Gegensatz zu der strengen Vorgehensweise, die Jan vom Umgang mit psychisch kranken Straftätern kannte. Überhaupt verlief die Arbeit auf der 9b viel entspannter und gelassener als an Jans vorherigen Arbeitsplätzen. Vormittags waren die meisten Patienten auf dem Klinikgelände unterwegs. Sie besuchten die Ergotherapie, nahmen am Bewegungsprogramm teil, musizierten oder malten in der Kunsttherapie oder wurden in den Trainingswerkstätten auf den beruflichen Wiedereinstieg vorbereitet.
Jan nutzte die Abwesenheit der Patienten, um sich mit den schriftlichen Formalitäten und dem Dokumentationssystem
der Klinik vertraut zu machen. Später besuchte er die allmontägliche Ärztekonferenz, wo er noch einmal von Fleischer im Kollegenkreis willkommen geheißen wurde.
Nach der Mittagspause stand Jan seinen Patienten für persönliche Gespräche zur Verfügung. Wieder musste er an seine frühere Stellen denken. Hier gab es kein »Ich war doch nur ganz zufällig auf diesem Schulhof, und dieser Junge hat mich dazu gezwungen« oder »Glauben Sie mir doch, sie findet es geil, wenn ich sie dabei würge - ich hab vielleicht nur ein bisschen fester zugedrückt als sonst«.
Hier gab es andere Probleme, mit denen Jan deutlich besser zurechtkam. Probleme wie die des Grundschullehrers, der an einem sogenannten sozialen Brennpunkt einer Großstadt gearbeitet hatte und mitten im Sportunterricht durchgedreht war, weil er das Geschrei und die Aufsässigkeit seiner Schüler nicht mehr ertragen hatte. Oder die der hochdepressiven, alleinerziehenden Mutter, die
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