Kalte Stille - Kalte Stille
nicht in diese Richtung zu sehen und
sich nur an die angenehmen Dinge zu erinnern, die er mit Park und Weiher in Verbindung brachte. Er versuchte, sich den Kiosk vor Augen zu rufen, an dem er und seine Freunde im Sommer Eis und Limonade gekauft hatten, wenn sie an den Weiher zum Baden gekommen waren.
Dennoch spürte er eine Gänsehaut, denn da waren noch andere, stärkere Erinnerungen.
Als Jan schließlich sein Ziel erreicht hatte und aus dem Wagen stieg, kam er sich vor wie der Zeitreisende in H. G. Wells’ Roman. Er hatte das surreale Gefühl, diesen Ort nie wirklich verlassen zu haben, sondern lediglich ein Stück in die Zukunft gereist zu sein.
Der Eindruck, sich in einem seltsamen Traum zu bewegen, hielt noch an, als er an Rudolf Marenburgs Gartentor angekommen war. Gleich gegenüber befand sich das Haus der Forstners, in dem bis vor kurzem ein altes Ehepaar zur Miete gewohnt hatte. Vor wenigen Monaten war der Mann gestorben, woraufhin die Frau in ein Seniorenheim gezogen war. Das Haus befand sich noch immer in tadellosem Zustand, stellte Jan fest. Hin und wieder hatte er geträumt, es wäre irgendeiner Katastrophe oder einem Brand zum Opfer gefallen, und jedes Mal, wenn er danach erwacht war, hatte er eine morbide Form der Erleichterung verspürt.
Dieses Haus hatte so viel Leid gesehen, dass Jan davon überzeugt war, es müsse einen Teil davon für alle Zeiten in seinen Mauern gespeichert haben. Jan würde sein Elternhaus nie wieder betreten können, das stand für ihn fest. Aber jetzt, wo er ihm zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder gegenüberstand, fragte er sich trotzdem, wie sehr es sich wohl im Inneren verändert haben mochte. Ob es noch immer so roch wie in seiner Kindheit - nach getoastetem Brot, nach dem Putzmittel mit Zitronenduft,
das seine Mutter stets großzügig verwendet hatte, und nach der Holzpolitur des Treppengeländers? Jene Gerüche, die Jan so vertraut gewesen waren, dass er diesen anderen, fremdartigen Geruch nicht wahrgenommen hatte - damals, in jenem Sommer, als er übers Wochenende nach Hause gekommen und die Treppe hinaufgelaufen war. Als er …
»Jan?«
Die Stimme riss ihn aus seinen Erinnerungen. Jan wusste, dass es der alte Marenburg war, noch ehe er sich nach ihm umgedreht hatte. Die kehlige und ungewöhnlich hohe Stimme war unverkennbar. Rudolf Marenburg litt unter einer angeborenen Anomalie der Stimmbänder, weshalb sich die Kinder im Ort über ihn lustig gemacht hatten. Sie hatten ihn Kermit genannt, weil er klang wie der Frosch in der Muppet Show .
Marenburg hatte es den Kindern nicht übelgenommen - zumindest hatte er nie geschimpft oder sie zum Teufel gejagt. Im Gegenteil, nach all den schlimmen Dingen, die Jan und seiner Familie widerfahren waren, blieb Marenburg über die Jahre hinweg sein zuverlässiger, väterlicher Freund. Er hatte ihm den Rücken freigehalten, indem er sich um die Vermietung des Hauses und die anfallenden Reparaturen kümmerte, weil er wusste, wie dringend Jan den Abstand von seinem ehemaligen Zuhause gebraucht hatte. Mehrmals hatte Marenburg versucht, das Haus zu verkaufen, es dann aber wieder aufgegeben, immer mit der Begründung, bei den derzeitigen Immobilienpreisen wäre es ein Verlustgeschäft.
Jan vermutete aber auch, dass Marenburg es vielleicht nicht ganz so ernst mit seinen Verkaufsbemühungen genommen hatte. Denn dadurch hätte er für Jan auch das letzte Verbindungsstück nach Fahlenberg gekappt - und
somit zu sich. Umso mehr hatte er sich über Jans Anruf gefreut, als dieser seine Rückkehr ankündigte, und es war für ihn eine Ehrensache gewesen, dass Jan die erste Zeit bei ihm wohnen würde, bis er etwas Geeignetes gefunden hatte.
Vielleicht verändert sich doch nicht alles mit der Zeit, dachte Jan, als er seinen Freund auf sich zukommen sah.
Natürlich war auch Marenburg älter geworden, hatte deutlich mehr Falten als früher, und seine einstmals roten Haare waren längst schlohweiß, aber seine äußerliche Aufmachung entsprach noch immer dem Bild, das Jan von ihm in Erinnerung hatte: eine ausgebeulte braune Cordhose, dazu ein helles Flanellhemd mit hochgekrempelten Ärmeln und Filzpantoffeln.
Es war ein herzliches Willkommen, und als ihn Marenburg an sich drückte, konnte Jan dasselbe strenge Rasierwasser riechen, das ihn schon vor über zwanzig Jahren umhüllt hatte.
»Schön, dass du wieder da bist, Junge«, sagte Marenburg und sah Jan prüfend an. Dann nickte er in Richtung des Forstner-Hauses. »Ich habe beobachtet,
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