Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
Vom Netzwerk:
hatte. Doch Alexandra trug kein Make-up. Dieses durchgefrorene und vor Schmerz und Angst verzerrte Gesicht war echt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund stand offen, und der Atem quoll stoßweise wie heißer Dampf heraus.
    Als sie wenige Schritte vor Jan stehen blieb, konnte er die gefrorenen Speichelfäden sehen, die rechts und links wie winzige Eiszapfen von den Mundwinkeln hinabführten.
    Alexandra starrte ihn an, als sei er der Schwarze Mann höchstpersönlich, dann schrie sie.
    Es war ein Schrei, der Jan durch Mark und Bein ging. Dieser Schrei hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einer menschlichen Stimme, vielmehr hörte sich Alexandra an wie ein vor Angst verrückt gewordenes Tier. Nichts an ihr erinnerte mehr an die hübsche Achtzehnjährige im Fenster, die er hin und wieder heimlich von seinem Zimmer aus beobachtet hatte.
    Jan dachte an seinen Vater, der Tag für Tag mit Verrückten zu tun hatte und der ihm einmal gesagt hatte, es gäbe keinerlei Grund, sich vor ihnen zu fürchten. Das sind Menschen wie du und ich, die unsere besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge brauchen.
    Jan rief sich dies in Erinnerung und nahm sich vor, keine Angst zu haben. Leicht fiel ihm das nicht, aber dass Alexandra vor allem jetzt besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge brauchte, war deutlich zu erkennen.
    »He«, flüsterte er und hob beschwichtigend die behandschuhten Hände. »Ich bin’s doch nur. Jan. Jan Forstner.«
    In diesem Moment begann Rufus zu bellen. Wie die
meisten Hunde seiner Rasse gehörte er nicht gerade zu den Mutigsten und nahm schon bei den geringsten Anzeichen einer Gefahr Reißaus, doch nun schien er beschlossen zu haben, wenigstens aus gebührender Entfernung seiner Hundepflicht nachzukommen.
    Alexandras Blick zuckte zu Rufus, dann wieder zu Jan, und dann rannte sie davon. Als Jan sah, wohin sie lief, war alle Angst endgültig vergessen.
    »Nein!«, schrie er ihr hinterher. »Nicht!«
    Doch Alexandra lief weiter - hinaus auf die Eisfläche des Weihers.
    »O Scheiße!«
    Jan lief ihr bis zum Ufer hinterher, dann hielt er inne. Noch am Nachmittag, als er hier mit Rufus unterwegs gewesen war, hatte er das Eis in der Sonne knacken gehört - es hatte gesungen , wie sein Vater es nannte -, und die Parkverwaltung hatte ein Schild EISLAUFEN VERBOTEN! LEBENSGEFAHR! aufgestellt.
    Gut möglich, dass das Eis zur Mitte des Weihers hin noch trug, aber er hätte keine Wette darauf abschließen wollen.
    »Bleib stehen!«, kreischte er, und seine Stimme klang in seinen Ohren schrill wie eine Trillerpfeife.
    Diesmal schien Alexandra ihn gehört zu haben. Sie schlitterte noch ein paar Meter übers Eis und fiel dann auf die Knie.
    »Du musst zurückkommen«, rief Jan ihr zu und betonte dabei jedes einzelne Wort, damit sie ihn auch ja verstand. »Bleib auf allen vieren und komm ganz langsam wieder her.«
    Fernab der Parkbeleuchtung war Alexandra nur ein buckliger Schatten auf der Eisfläche. Jan konnte sie weinen hören. Sie rührte sich nicht.

    So eine dreimal verfluchte Scheiße, dachte er, als sie keinerlei Anstalten machte, zum Ufer zurückzukommen. Wahrscheinlich hatte sie jetzt begriffen, in welche Gefahr sie sich gebracht hatte.
    Jan biss sich auf die Unterlippe. Was sollte er nur machen? Heimlaufen und Hilfe holen oder hierbleiben und womöglich versuchen, sie vom Eis zu holen?
    Rufus, der sich hechelnd neben ihn gesetzt hatte, war ihm auch keine Hilfe.
    Noch während Jan überlegte, ob er wirklich das Risiko eingehen sollte, aufs Eis zu gehen und Alexandra zurückzuholen, nahm sie ihm die Entscheidung ab. Als habe sich ihre Verrücktheit zu einer kleinen Pause entschieden und ihr Verstand wieder Oberhand gewonnen, hielt sie sich an Jans Instruktionen. Sie blieb auf allen vieren und kam vorsichtig auf ihn zu.
    Ihr Schluchzen war bis zu Jan zu hören - und Jan hörte noch etwas. Ein leises Knacken, das ihn zusammenfahren ließ. Es waren noch knapp hundert Meter, die sie zurücklegen musste, und Jan betete, dass das Eis halten würde. Bald waren es noch etwa achtzig Meter, dann siebzig, dann sechzig. Je näher Alexandra dem Ufer kam, desto schneller wurden ihre Bewegungen.
    Wieder das Knacken, diesmal ganz in Jans Nähe. Jan starrte auf das Eis und sah die Risse, die dicht am Ufer entstanden. Als ob sie ein hektischer Zeichner auf die glasähnliche Fläche kritzelte.
    »Halt!«, rief er ihr zu. »Nicht hierher! Kriech weiter nach dort drü…«
    Ein lautes Krachen schnitt ihm das Wort ab. Risse schossen über das

Weitere Kostenlose Bücher