Kalte Stille - Kalte Stille
Eis, schneller, als dass man ihnen mit den Augen hätte folgen können.
Alexandra geriet in Panik. Sie sprang auf und lief los.
Direkt auf Jan und das rettende Ufer zu. Doch sie war kaum vier Schritte weit gekommen, als das Eis brach.
Jan schrie und Rufus bellte.
Alexandra stürzte in das eisige Wasser. Sie tauchte kurz unter und kam strampelnd und um sich schlagend wieder an die Oberfläche.
Jan packte Rufus am Halsband und wollte den Karabiner der Hundeleine lösen, doch mit seinen Fäustlingen war das nicht so leicht möglich. Er hörte Alexandras gurgelnde Schreie und ihr Prusten, streifte in Windeseile die Handschuhe ab und riss die Hundeleine los.
Bis zu dem Loch im Eis waren es nur noch wenige Meter, aber die Leine war viel zu kurz.
Jan überwand alle Bedenken. Auf Knien und Händen ließ er sich aufs Eis gleiten, ignorierte die Knackgeräusche und kroch auf Alexandra zu. Ihre Bewegungen waren steif, panisch und unbeholfen. Sie musste schon während ihres Laufs durch den Park völlig durchgefroren gewesen sein, und nun gab ihr das eisige Wasser den Rest.
Jan warf ihr die Leine zu, aber es wirkte geradezu lächerlich. Er war noch viel zu weit von ihr entfernt.
Und dann ging sie unter und tauchte nicht wieder auf.
Fassungslos starrte Jan auf das unruhige Wasser des Eislochs. Er glaubte kurz einen weißen Umriss zu sehen, der unter ihm mit der Strömung zum Ufer getrieben wurde. Aber gleich darauf war die Erscheinung auch schon wieder verschwunden.
Mehr als dreiundzwanzig Jahre waren seither vergangen. Jahre, in denen Jan immer wieder von dieser Nacht geträumt hatte. In seinen Träumen sah er das Eisloch, die
weiße Erscheinung unter sich, und die dunkle Fläche des Weihers.
Gelegentlich veränderten sich diese Träume. Manchmal war Jan näher am Loch, dann wieder weiter entfernt. Mal hielt sich Alexandra noch länger über Wasser und versuchte vergeblich, das nasse Eis zu greifen, oder sie tauchte erst gar kein zweites Mal auf. Doch nie war die Leine lang genug, um Alexandra retten zu können - wenigstens in der Traumwelt.
Und es gab noch eine Variante. Dann nahm der Traum noch eine letzte Wendung: Jan sprang dem Mädchen hinterher und tauchte mit ihr in die eisige Schwärze des Weihers hinab, um vor all den Schrecken zu fliehen, die ihn nach jener schicksalhaften Nacht erwarten sollten.
4
Am Montagmorgen um 7:30 Uhr trat Jan seinen Dienst auf Station 9b der Waldklinik an.
Zuvor hatte ihm Rudolf Marenburg ein üppiges Frühstück aufgenötigt, mit Spiegeleiern, gebratenem Speck, Würstchen und einem Bataillon Toastbroten. Jan hatte sich über diese fürsorgliche Geste seines Freundes gefreut und ordentlich zugelangt, obwohl er für gewöhnlich morgens nicht mehr als eine Tasse Kaffee zu sich nahm. Zum einen wollte er die gute Absicht seines Gastgebers nicht enttäuschen, andererseits hatte er aber auch seit seiner Scheidung nicht mehr so gut und ausgiebig gefrühstückt.
Eigentlich lag es sogar schon länger zurück, denn im
letzten Jahr ihrer Ehe hatte Martina morgens meist nur mit einer Gauloise in der einen und einem Kaffeebecher in der anderen Hand am Küchentisch gesessen und ihn mit besorgtem und gleichzeitig vorwurfsvollem Blick angesehen. Einem Blick, der sagte: Du hast heute Nacht schon wieder geschrien, und: Hört das denn nie auf, und: Ich mache das nicht mehr länger mit .
Marenburgs Frühstück war für Jan wie eine schöne Erinnerung an die glückliche Anfangszeit seiner Beziehung gewesen; an eine Zeit, in der Martina morgens höchstens Slip und Bademantel getragen und Jan mit einem verschlafenen, aber glücklichen Lächeln empfangen hatte.
Mit seiner morgendlichen Fürsorge hatte Marenburg etwas bei Jan ausgelöst: Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich wieder irgendwo zu Hause - auch wenn ihm klar war, dass dieses Zuhause nur von vorübergehender Dauer sein würde. Jan hatte es genossen, noch ganz verschlafen all die Köstlichkeiten zu verdrücken und nebenbei mit Marenburg über die Schlagzeilen des Fahlenberger Boten zu plaudern. Doch als er später die Treppe zu seinem neuen Arbeitsplatz emporstieg, war ihm ein wenig übel, und er nahm sich vor, es künftig wieder bei der einfachen Tasse Kaffee bewenden zu lassen.
Haus Nummer 9 war eines von insgesamt vierzehn Stationsgebäuden auf dem parkähnlichen Areal der Fahlenberger Waldklinik. Im Parterre war die geschlossene Station untergebracht, in der vor kurzem eine neue Kollegin, Dr. Andrea Kunert, ihren Dienst
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