Kalte Stille - Kalte Stille
schimmerten Tränen. »Irgendwann hat sie es mir erzählt. Sie wolle mich nicht verlieren, hat sie gesagt, aber sie konnte einfach nicht mit mir schlafen.«
»Und wie bist du damit umgegangen?«
»Ich … ich habe ihr gesagt, dass ich immer zu ihr stehen werde und dass ich warten kann, bis sie es auch will. Wenn’s hätte sein müssen, hätte ich mein ganzes Leben drauf gewartet. Ich hab sie doch geliebt.« Er begann zu weinen.
»Dann ist sie also dir zuliebe in die Therapie gegangen?«, fragte Jan.
Ralf schniefte, zog ein zerknäultes Papiertaschentuch aus der Hosentasche und putzte sich geräuschvoll die Nase.
»Ich hab sie dazu überredet«, erklärte er, noch immer schluchzend.
»Und danach ging es ihr besser?«
Schulterzuckend stopfte Ralf das Taschentuch in seine Jeans zurück. »Wir hatten keinen Sex, wenn du das
meinst. Aber ich konnte sie zum ersten Mal richtig in den Arm nehmen, ohne dass sie sich verkrampfte. Im Gegenteil, sie hat sogar von sich aus meine Nähe gesucht.«
»Erzähl ihm von dem Abend«, forderte ihn Carla auf.
Jan sah sie fragend an. »Welcher Abend?«
»Der Abend bevor sie es getan hat«, sagte Ralf, der sich wieder fasste. »Da ist etwas Seltsames passiert, und ich Trottel war zu dumm, es zu merken.«
»Was war es?«
»Ich war mit Nathalie fürs Kino verabredet, aber als ich sie abholen wollte, hat sie nicht aufgemacht. Also hab ich es auf ihrem Handy versucht. Ich stand noch im Treppenhaus und hab das Handy in ihrer Wohnung klingeln gehört, aber sie schien nicht da zu sein. Dann hab ich eine Weile gewartet, weil ich gedacht hab, sie sei kurz weggegangen.« Ralf starrte auf das Tischtuch, dann lächelte er versonnen. »Manchmal bekam sie urplötzlich Lust auf den vegetarischen Döner von Ahmet. Der hat seinen Stand gleich bei ihr um die Ecke.«
»Aber da war sie nicht?«, fragte Jan.
Das versonnene Lächeln verschwand so plötzlich, als habe man es abgeschaltet. »Nein. Ahmet meinte, er habe sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Ihr Polo stand auf dem Parkplatz im Hinterhof, sie muss also doch daheim gewesen sein.« Ralf tauchte einen Zeigefinger in die kleine Wasserpfütze auf dem Wachstuch, dann betrachtete er den Tropfen auf der Fingerkuppe, als habe er so etwas noch nie gesehen.
»Ich hab mir nichts Schlimmes dabei gedacht«, sagte er leise. »Ich dachte, sie hätte wieder einen ihrer Schlafanfälle.«
»Schlafanfälle?«
»Ja.« Ralf schnippte den Tropfen auf den Boden. »Seit sie aus der Klinik zurück war, hatte sie das öfter mal. Wahrscheinlich von ihren Medikamenten.«
»Was hatte man ihr verschrieben?«
»Trimipramin.«
»Ja, das kann müde machen«, bestätigte Jan. »Und was ist dann passiert?«
»Nichts.« Ralf hob ratlos die Hände. »Ich bin wieder heimgefahren. Später hab ich dann noch zweimal versucht, sie anzurufen, aber sie ging nicht ran. Danach habe ich sie in Ruhe gelassen, weil ich dachte, sie schläft. Erst als ich sie am nächsten Morgen von der Arbeit aus angerufen habe und sie sich noch immer nicht gemeldet hatte, hab ich mir Sorgen gemacht. Und dann … dann hat Carla angerufen und mir gesagt, was passiert ist.«
Nun war Jan auch klar, weshalb Ralf bei ihrer ersten Begegnung so ernst gewesen war. Der Junge tat ihm entsetzlich leid.
»O Mann!« Ralf schlug mit der flachen Hand auf das Tischtuch, und die Wasserpfütze spritzte nach allen Seiten davon. »Ich bin so ein Idiot! Ich hätte merken müssen, dass da was nicht gestimmt hat.«
»Nein, Ralf«, sagte Carla und legte ihre Hand auf die seine. »Selbstvorwürfe bringen jetzt gar nichts.«
»Das sagst du so einfach.« Er sah sie an, und um seinen Mund zuckte es. Dann brach er erneut in Tränen aus. »Wie konnte sie bloß glauben, dass ich sie wieder in die Klinik zurückschicke? Warum hat sie denn nicht wenigstens versucht, mit mir zu reden? Ich war doch immer für sie da. Vielleicht ist sie an dem Abend ja zu Hause gewesen und hat nur nicht reagiert, weil sie Angst gehabt hat. Vor mir!«
Noch bevor Carla oder Jan etwas sagen konnten, sprang Ralf auf und lief aus der Küche. Man hörte, wie er auf dem Gang heftig schluchzte.
»Lassen wir ihn einen Moment allein«, schlug Jan vor, als Carla zu ihm gehen wollte.
»Ja, ist vielleicht besser.«
Sie setzte sich wieder und begann nachdenklich an einer Locke zu zupfen. »Was glaubst du, warum hat sie das getan?«
»Ich kann nur raten.« Jan machte eine bedauernde Geste. »Nach dieser E-Mail zu schließen, muss es etwas mit ihrem
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