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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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hat sich auf seine Schweigepflicht berufen und wieder aufgelegt.«
    »Und ich habe ihn nicht gefragt«, ergänzte Ralf. »Niemand in der Klinik weiß, dass ich mit Nathalie zusammen bin … ich meine, zusammen war.« Er zupfte an seinem Bärtchen. »Scheiße, ich kann’s immer noch nicht glauben.«
    »Warum haben Sie nicht mit Dr. Rauh gesprochen?«, wollte Jan wissen.
    Ralf schüttelte den Kopf. »Wenn ich Rauh oder sonst jemandem erzählt hätte, dass Nathalie meine Freundin ist, hätte es Gerede gegeben. Am Schluss hätte es noch
geheißen, ich mache mit Patientinnen rum oder so. Dass sie schon vorher meine Freundin war, hätte niemand interessiert. Verstehen Sie?«
    Jan nickte. »Durchaus. Krankenhaustratsch kann übel sein.«
    »Ich hab mich aber umgehört«, fuhr Ralf fort. »Laut Rauh ist es ›Suizid infolge einer unvorhersehbaren Panikattacke‹ gewesen. Tja, und das war’s dann eben.«
    »Aber ihr beiden, glaubt das nicht?«
    »In gewisser Weise schon«, sagte Ralf, »aber wir verstehen den Grund nicht. Weshalb bekommt Nathalie wie aus heiterem Himmel eine Panikattacke? So etwas habe ich noch nie gehört, und ich arbeite ja auch schon’ne Zeit lang in der Psychiatrie.«
    »Na schön.« Jan rieb sich die Schläfen. »Ihr wollt also meine Meinung hören. Dann sollte ich zunächst einmal mehr über Nathalie wissen. Was für Ängste hatte sie, dass sie deshalb in die Klinik ging?«
    Wieder wechselten Ralf und Carla Blicke miteinander. Ralf nickte, und Carla schien dies als Aufforderung zu verstehen.
    »Nathalie war ein liebes und wirklich hübsches Mädchen«, sagte sie. »Wenn wir zusammen weggegangen sind, hat es nie lange gedauert, bis sich irgendein Typ für sie interessiert hat. Sie hatte so etwas, was die Männer anzog.«
    »Hat sie mit diesen Männern geflirtet?«
    »Nein, absolut nicht«, sagte Carla. »Keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll, vielleicht weckte sie bei denen so eine Art Beschützerinstinkt. Aber sie hat sich nie auf eine Beziehung einlassen können. So lange ich sie kannte, hatte sie nie einen Freund. Bis sie Ralf kennengelernt hat.«

    »Warum nicht früher?«
    Ralf räusperte sich. »Sie … also sie … sie hatte Angst vor körperlicher Nähe. Körperlicher Nähe von Männern.«
    »Sie meinen, sie hatte Angst vor Sex?«
    Ralf nickte. »Ja, aber nicht nur das. Es dauerte’ne ganze Weile, ehe ich sie zum ersten Mal in den Arm nehmen konnte, ohne dass sie steif wie ein Brett wurde.«
    »Aber das hat Sie nicht davon abgehalten, weiterhin mit ihr …«
    »Dr. Forstner, ich hab sie geliebt !«, fuhr Ralf auf. Er stellte sein Glas so heftig ab, dass Wasser überschwappte. »Ich weiß, das klingt vielleicht reichlich naiv, aber es war so. Nathalie war jemand ganz Besonderes für mich. Ich war bei ihr nicht nur auf Sex aus. Sie wollte, dass ich ihr damit Zeit lasse, und das hab ich akzeptiert.«
    »Tut mir leid«, sagte Jan. »So war das nicht gemeint. Ich versuche nur, das alles zu verstehen. Und was den Dr. Forstner betrifft, so schlage ich vor, dass wir uns duzen. Ich bin Jan.«
    Ralf nickte. »Alles klar, Jan.«
    »Hat Nathalie jemals mit einem von euch darüber gesprochen? Ich meine, darüber, warum sie solche Angst vor Nähe hatte?«
    »Ja, mit mir«, sagte Carla. »Später auch mit Ralf, aber mir hat sie zuerst davon erzählt. Es hatte mit ihrer Kindheit zu tun.«
    »Ist sie missbraucht worden?«
    »Nein«, Carla strich sich eine Locke aus dem Gesicht. »Aber es war trotzdem sehr schlimm für sie.«
    Carla begann zu erzählen, und das, was Jan zu hören bekam, war tatsächlich schlimm genug, um ein kleines Mädchen zu traumatisieren.

    Nathalie war ohne Vater aufgewachsen. Sie hatte ihn nie kennengelernt. Ihre Mutter hatte ständig wechselnde Beziehungen und hätte beim besten Willen nicht sagen können, wer von ihren zahllosen Liebhabern überhaupt als Vater infrage gekommen wäre. Das hatte sie zumindest zu Nathalie gesagt, und Nathalie hatte eingesehen, dass es sinnlos war, weiter nach ihm zu fragen. Sie hatte keinen Vater. Damit musste sie leben. Punktum.
    Als Nathalie acht gewesen war, kam sie eines Tages früher vom Unterricht nach Hause. An ihrer Schule kursierte eine Grippewelle, die auch vor den Lehrkräften nicht Halt machte, und da keine Vertretung mehr verfügbar gewesen war, hatte man die Kinder heimgeschickt.
    Im Gegensatz zu vielen ihrer Mitschüler hatte sich Nathalie jedoch nicht sehr darüber gefreut. Ihre Mutter war in letzter Zeit häufig übellaunig, vor

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