Kalteis
voranschreitet oder hinterherläuft, er kann es nicht sagen. Genauso wenig kann er sich an die Worte des Geistlichen erinnern. Gesehen hat er, wie dieser den Mund zum Sprechen öffnete. Auch an Laute, die sich ihren Weg zu seinem Ohr gesucht haben, erinnert er sich. Aber sie waren ohne Zusammenhang, ohne Sinn. Drangen nicht zu ihm durch. Konnten die Mauer des Nichts nicht über winden
Wieder zählt er die Schritte. Jeden einzelnen, eins, zwei, drei, vier ... und dann nimmt er das Geräusch wahr. Das andere Geräusch, das neben den Schritten noch hörbar ist und sich jetzt immer mehr in sein Bewusstsein drängt.
Leise und dann immer lauter, bis es seinen Kopf völlig ausfüllt. Es ist der Klang der Gefängnisglocke, die seinen letzten Gang anzeigt. Die Totenglocke. Ihr Klang erfüllt ihn jetzt, erfüllt seinen ganzen Körper.
Erfüllt ihn nun ebenso sehr wie vorher das Nichts. Er weiß, sie wird erst verst ummen, wenn er nicht mehr am Le ben ist. Sie wird das Letzte sein, das er hören wird, zeigt sie doch seinen Tod an, für jedermann hörbar.
Sie führen ihn hinunt er in den Gefängnishof. Dort er warten sie ihn bereits. Der Staatsanwalt, der Gerichtsarzt und der Nachrichter mit seinen Helfershelfern.
Die in schwarze Anzüge gekleideten Gehilfen nehmen ihn in Empfang. Sie packen ihn links und rechts an beiden Armen. Legen ihn bäuchlings auf das Kippbrett. Er spürt noch den festen Griff der Hände, da schieben sie das Brett unter die Fallschwertmaschine.
Der Nachrichter zieht den Sperrhebel. Das Messer fällt herunter, trennt den Kopf vom Rumpf.
*
Der Leichnam, nun Eigentum des bayerischen Staates, wird dem gerichtsmedizinischen Institut der Stadt München übergeben. Die Verwandten des Hingerichteten haben auf den Leichnam und somi t auf die Übernahme der entstan denen Kosten verzichtet. 247 Reichsmark werden aus der bayerischen Staatskasse als Entlohnung an den Nachrichter Johann Reichard überwiesen.
Dauer der Hinrichtung vom Betreten des Gefängnishofes bis zur Exekution durch die Fallschwertmaschine: 17 Se kunden.
Samstag
Kathie sitzt im Zug nach München. Sie hat sich ans Fenster gesetzt. Sieht nach draußen. Regentropfen klatschen an die Scheiben. Rinnen vom Fahrtwind getrieben schräg über die Fenster. Treffen auf ander e Tropfen, schließen sich zusam men, bilden Straßen. Ve rfangen sich im Rahmen und flie ßen von dort in kleinen Bächen am Fenster hinab. Hinter den nassen Scheiben ist die Landschaft kaum zu erkennen. Das Grün der Wiesen, die abgeernteten Felder, die Wälder, alles verschwimmt im Regennass.
Sie sitzt da in ihre Gedanken versunken. Weg vom Dorf, weit weg in München ist sie bereits. Dort würden sie zur Lederer gehen. Sie und die Maria. Zur Lederer, der Base der Mutter. Versprochen hatte sie es, versprechen musste sie es der Mutter, als sie heute Morgen ging. Aber bleiben, nein, bleiben wollte sie dort nicht. Nur ihre Sachen unterstellen und weiter. Was soll sie auch bei der, würde die ihr doch die gleichen Vorschriften machen wie der Vater. Würde ihr sagen, was richtig war und falsch, würde alles bestimmen, ihr ganzes Leben. Frei will sie sein in München. Frei. Und das Versprechen? An das Versprechen braucht sie sich nicht zu halten, die Mutter würde es eh nicht merken, und außerdem hatte Kathie ihre Finger hinter dem Rücken gekreuzt, als sie es der Mutter versprach. Die hat es nicht bemerkt. Selber schuld.
Vor wenigen Jahren, Kathie war noch ein kleines Kind, da ist sie mit ihrer Mutter hin und wieder nach München gefahren. Nicht oft. Manchmal nur durfte sie sie begleiten .
Brav sein musste sie dann. Brav am Fenster sitzen im Zug und brav an der Hand der Mutter durch die große Stadt gehen. Brav auf dem Stuhl sitzen und warten, bis die Mutter fertig war mit ihren Besorgungen. Da saß sie dann, die kleine Kathie, auf viel zu hohen Stühlen mit baumelnden Beinchen, wartete, dass die Mutter endlich fertig wird und sie eine »Stadtsemm el« bekommen würde. Eine Zucker schnecke oder ein paar Zuckerstangen, weil sie doch so brav war.
Stoffe kaufte sie ein, die Mutter, und all die anderen Sa chen. Die sie dann auf dem Land weiter an die Dörfler ver kaufte. Einen Hausierhandel hat sie. In den großen Taschen und im Rucksack lagen all die schönen Dinge verstaut. Din ge aus der Stadt, die man auf dem Land nicht oder nur schwer bekommen konnte. Knöpfe, Stoffe, Nähseiden, Gar ne. Auch das eine oder an dere Kochgeschirr hatte die Mut ter dabei. Kämme und Schleifen.
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