Kalteis
lockert Alwin den Griff, rutscht nun auch den Abhang hinab. Versucht, das Mädchen zu sehen. Beugt sich über das Ufer hinaus. Immer darauf bedacht, nicht die Uferböschung hinunterzurutschen. Nun sieht auch er sie. Sieht die bloßen Beine im Wasser treiben, das glitzernde Band um ihr Handgelenk. Den Draht, mit dem die Fichtenzweige an den Körper gebunden sind. Erst jetzt will er seinem Bruder glauben. Jetzt, da er es mit eigenen Augen sieht. Es vergingen mehrere Stunden, bis sie mit der Polizei zurückkehren. Nach Hause, bis nach München waren sie gefahren. Erst dort hatten sie der Kriminalpolizei den Fund der Toten gemeldet.
»Warum nicht vor Ort?«, hat sie der zuständige Beamte gefragt. »Warum sind Sie nicht gleich in Schäftlarn zur Polizei?«
Die Brüder wissen darauf keine Antwort. Bleiben stumm. Wollten sie doch nur weg nach ihrem Fund. Die Sachen hätten sie schnell zusammengepackt und Johann sei dann den ganzen Weg nach Hause zurückgefahren, erzählt Alwin den Beamten. Sie waren nicht auf die Idee gekommen, ihren Fund der Polizei in Schäftlarn zu melden. Einfach nicht auf die Idee gekommen. Weil doch die Frau, das Mädchen, ermordet worden sei. Woher sie das denn wissen wollen? Wie sie sich so sicher sein können, dass die Person Opfer eines Verbrechens geworden sei? Die Fesseln, sie war doch gefesselt. Sie hätten doch beide den Draht um ihre Beine und um die Hand gesehen. Deutlich gesehen.
Selbstverständlich wären sie bereit, der Polizei die Stelle zu zeigen. Und so waren sie an diesem Tag dann nach Stunden wieder an den Ort zurückgekehrt. Diesmal im Dienstwagen der Polizei München. Dem zuständigen Beamten haben sie sie dann gezeigt. Die Tote. Eingeklemmt unter dem Wurzelstock, bedeckt mit Fichtenzweigen. Einer der Beamten versucht die Zweige, die auf dem Körper der Toten liegen, abzustreifen. Mit einer langen Stange stößt er gegen den Körper. Die Zweige bleiben liegen, lassen sich nicht lösen. Er versucht es erneut. Versucht den ganzen Körper unter dem Wurzelstock hervorzudrücken. Immer wieder stößt er mit der Stange dagegen. Aber weder der Körper noch die Zweige lassen sich lösen.
Erst am nächsten Tag, nachdem sie das Mädchen aus dem Wasser geborgen haben, werden sie sehen, warum. Sie sehen, dass dem Mädchen die Zweige mit einem Draht an den Körper gebunden worden waren. Den Körper einhüllten. Darunter das Kleid und der Mantel der Toten, zu einem Bündel verschnürt und wie die Zweige mit Draht an den Körper gebunden. Sie werden den Stein finden, der den Körper daran hindern sollte, an die Oberfläche geschwemmt zu werden und der bei der Bergung der Toten ins Wasser zurückfällt. Sie werden die Schuhe der Toten finden. Abgetrieben von der Strömung. Nicht weit flussabwärts, aber doch ein Stück, wie der Hut. Einer wird die Zweige von ihrem Gesicht lösen, von ihrem Oberkörper. Er wird in das Gesicht eines Mädchens blicken, das höchstens 20 Jahre alt ist. Die Farbe der Augen braun und die Augenlider im Tod nur halb geschlossen. Die Nase stumpf und kurz. Die vollen Lippen des Mundes geschlossen. Er wird die braunen Haare der Toten sehen, zu einem Zopf geflochten hängen sie über die Schulter herab, fast bis zur Taille. Sie ist nicht groß, eher klein und untersetzt. Ihre Oberbekleidung zerrissen, der Blick frei auf die bloße Brust.
Sie werden die Tote aus dem Wasser bergen und die Uferböschung hinauf schleifen. Dort legen sie sie ins Gras. Sie werden sie fotografieren, auf den Bildern wird man das Mädchen sehen, wie es daliegt, halb entkleidet, die Strümpfe heruntergerissen, ohne Schlüpfer. Wird die Schürfwunden und Flecken auf ihrer Haut sehen. Die abgebrochenen und eingerissenen Fingernägel. Die Würgemale. Das Kettchen aus Stickperlen, sie trägt es immer noch um ihren Hals. Wertlos. Es wird herunterfallen, sich auflösen, erst jetzt, wenn sie sie in den blechernen Sarg legen und in die Gerichtsmedizin fahren. Die Perlen werden ins Gras fallen und dort liegen bleiben.
*
Zu München wohne ich in der Lothringerstraße. Zur Untermiete in einer kleinen Kammer. Für mich reicht die Kammer und jetzt, da ich keine Arbeit hab, bin ich froh, dass ich sie mir überhaupt noch leisten kann. Vom Stempeln bekommt man nicht viel, und die Zeiten sind schlecht. Die Frau Lederer, meine Vermieterin, ist Witwe. Ihr Mann war bei der Post, hat sie mir erzählt. Die Pension ist klein und so vermietet sie an Zimmerherrn. Gestern in der Früh hat sie mich gefragt, ob
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